Goethes Faust ist nicht etwa der illustrative Titel eines deutschen Boxers sondern, man erinnert sich an alte Schulzeiten, ein Klassiker der deutschen Literatur, an der Johann Wolfgang 60 Jahre gesessen haben soll. Betrachtet man das Abiturcurriculum des Fachs Deutsch des aktuellen Abiturjahrgangs fällt auf, der Schinken von 1808 ist noch immer (oder wieder) prüfungsrelevant.
So ist es natürlich eine Herzensangelegenheit vieler Schultheatergruppen, sich mit der anfänglich doch sehr zähen Materie zu beschäftigen. Keine Zweifel, man merkt, dass der Großmeister Goethe sich seine Zeit genommen hat, über das Stück nachzudenken, besonders die Sprache ist zauberhaft, auch, wenn man sie vielleicht zuerst gar nicht versteht. Und genau hier liegt der Hund begraben: warum sollte sich ein deutscher Schüler – neben dem schulischen Zwang – mit einem mehr als 200 Jahre alten Theaterstück beschäftigen, wenn er oder sie auch ganz gut ohne auskäme? Tun wir doch für einen Moment so, als hätten wir das Stück alle nicht gelesen, als hätten wir keine Ahnung von Goethe. Was genau hätte uns dann heute Abend gepackt? Die Theatergruppe des Viktoria-Gymnasiums der Stadt Essen hat sich dieses Jahr die Frage gestellt, welchen Reiz Faust für sie ausmacht. Im Stück ganz deutlich: anscheinend gar keiner. Die Fragen, die sich der Gelehrte stellt, fragt sich heute kein Jugendlicher mehr. Ein Spieler, der sich neben anderen während des Stückes ins Auditorium verirrt fragt sich als alter Spongebob-Schwammkopf-Fan eher, wie wohl ein Krabbenburger schmecke, immerhin werde er unter Wasser gebraten.
Viel interessanter ist hier anscheinend das Gretchen. Das Viktoriatheater pickt sich mit der Geschichte um Gretchen den für uns alle wohl greifbarsten Handlungsstrang der Tragöde. Da werden Faust und Mephisto, der hier eher der Checker ist, der sicher mindestens drei mal wöchentlich im Fitnessstudio pumpen geht, fast zu Nebencharakteren. Das ist klar. Die Krise festzustellen, dass wir nichts wissen können ist einem Jugendlichen aus dem Jahr 2016 sicherlich ferner als jene, sich in ein Mädchen zu verlieben und vielleicht erst einmal von ihm abgewiesen zu werden.
Also ist die Identifikation geschaffen: wir alle erinnern uns an unsere Liebes-Krisen, so haben wir schnell Verständnis für den Faust und seine ganz persönliche Gretchen-Frage.
Schnell entwickelt sich beim Viktoriatheater eine ganz eigene Dynamik, die von Goethe und seiner Sprache abweicht. Das wird auch ganz klar thematisiert: „Faust scheißt auf alles, das klingt bei Goethe natürlich anders.“ Es scheint, als wolle man gar nicht Goethe auf die Bühne bringen, sondern eine ganz eigene Liebestragödie.
Nach einer kurzen Einleitung, in der sich die Spieler fragen, ob es vernünftig sei, Bürgerkriegsregionen Hilfe zukommen zu lassen oder doch eher in Robotersoldaten zu investieren, nimmt die Geschichte um einen modernen Liebeskranken ihren Lauf. Da wettet man weniger um die eigene Seele, denn mehr um einen Kasten Bier, Schwerpunkte der Wetten sind ein Wochenende Amsterdam oder das „Weiberknallen“.
„Faust (Gretchen)“ ist ein sauber gespieltes Stück, das mit seinem einfachen Bühnenbild (sechs miteinander verbundene Stellwände) und mit dem spärlich eingesetzten Lichtstimmungen (keine Farben, lediglich Bühnenlicht, manchmal heller, manchmal dunkler) und der meist innerdiegetischen (sorry, Filmbegriff) Musik dennoch schöne Bilder schafft. Es stellt manchmal gar nicht den Anspruch, professionell wirken zu wollen. Der Beamer für eine Videoprojektion ist nicht von Anfang an eingerichtet und wird von den Spielern bedient. Er wird samt Laptop von den Spielern hereingetragen, auf der Bühne aufgebaut, das Video abgespielt, man sieht Elemente des Videoprogramms, der Mauszeiger ist zu sehen. Stört das? Nein, denn das Stück ist ehrlich, will das Wesentliche zeigen.
Vereinzelt leidet das Stück an dynamischen Brüchen. Das Viktoriatheater bringt Gesangseinlagen ein, die den Spielern 100% der Konzentration abverlangen, damit sie die Töne treffen, die Einsätze hinbekommen. Das tun sie, keine Frage, doch fallen die Spieler hierfür aus der ursprünglichen Rolle, sind nur noch Sängerinnen. Leider zogen sich Umbauphasen etwas, als die Stellwände verschoben wurden, sah das Publikum dahinter Anweisungen gebende Spieler, privat, nicht in der Rolle. Das nahm ein wenig den Zauber der Magie, die die Spieler sonst auf der Bühne dem Publikum zuhauf entgegenbrachten.
So können wir ein Fazit ziehen und uns beim Viktoriatheater aus Essen rund um Spielleiter Hans Twittmann bedanken für einen nachvollziehbaren und künstlerisch wertvollen Einblick in Krisen, wie sie sicher sowohl Goethe höchstselbst, als auch sein Faust, als auch wir alle schon hatten. Vielleicht nicht in solchen Extremen, doch Kummer und Schmerz gehören doch irgendwie immer ein bisschen zur Liebe. Vielen Dank für diese teilweise sehe intimen und ehrliche Einblicke!