Beitragsbild: Anke Sundermeier / Stage Pictures
„Ihr Kind hat ein wunderschönes Gebäude gemacht, morgen wird er es zerstören, in seiner Welt behält man die Dinge nicht, da behält man nichts, nicht einmal sich selber.“ So, oder so ähnlich könnte es klingen, wenn Erwachsene nach ein paar Gläsern Sancerre über das Endergebnis eines spielenden Kindes philosophieren. Wenn es einen Flughafenbahnhof baut, mit Papiertaschentüchern Schnee auf die Pisten macht. In der Welt des Kindes sind all das nur Momente der ausgeprägten Phantasie, die vergänglich sind, wenn Erwachsene anfangen, sich darüber Gedanken zu machen, wird es komisch. So, wie ein Kind mit Bauklötzen jeden Tag neue Phantasiegebilde errichtet, so wurden wir drei Mal hintereinander Zeuge, von einem Abend, der eigentlich mit den gleichen Bauklötzen begann.
Am vergangenen Samstag waren wir eingeladen zur Premiere von Drei Mal Leben, der Komödie der französischen Schriftstellerin Yasmina Reza, welche internationale Aufmerksamkeit gewann durch ihre zu Publikumslieblingen avancierten Stücke Kunst (1994) oder – und hier sollte es spätestens beim Kinogänger des guten Geschmacks klingeln – Gott des Gemetzels (2006), welches später mit Kate Winslet, Jodie Foster, Christoph Waltz und John C. Reilly in den Hauptrollen von Roman Polański verfilmt wurde. Obwohl Rezas Stücke durch unterschiedliche Thematiken allesamt Weltruhm erlangten, haben sie eines gemeinsam: Es passiert eigentlich nicht viel, es wird aber viel geredet. Und das auf eine unglaublich pointierte und geniale Art und Weise.

Ein kurzer Blick auf die Handlung: Henri, ein erfolgloser Astrophysiker, der seit drei Jahren nichts mehr veröffentlicht hat, ist verheiratet mit Sonja, einer Juristin, mit welcher er Arnaud hat, ein „fast sechs, also fünf“ Jahre altes Kind. Damit es in seiner Karriere wieder etwas mehr bergauf geht, ist er angewiesen auf Hubert Finidori, ein ihm übergeordneter Astrophysiker, der für eine Beförderung sorgen kann. So kommt es, dass Henri und Sonja Hubert und seine Frau Ines zum Abendessen in die Pariser Wohnung einladen. Und wie dies häufig so läuft, kommt zum Unglück immer noch ein bisschen Pech dazu: Die Finidoris kommen einen Tag zu früh, Henri und Sonja sind nicht vorbereitet, zu Essen gibt es nun nur Kekse und Appetithäppchen. Die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Und das gleich dreimal. Denn der Zuschauer bekommt den besagten Abend insgesamt dreimal mit unterschiedlicher Entwicklung präsentiert. Beim ersten Mal scheint Henri das Rückgrat zu fehlen, er kuscht vor Hubert, kriecht regelrecht vor ihm, seine Frau Sonja ekelt das nur an, der zweite Durchlauf beginnt entspannter, Henri blickt aber sehr schnell tief ins Glas, was den Abend dann doch sehr stark eskalieren lässt und im dritten Anlauf herrscht eine starke Melancholie, eine fast deprimierende Stimmung der Gleichgültigkeit, die sich schwer in Worte fassen lässt.
Soviel in kurz zur Vorlage Rezas. Dass der Leser des Textes, der das Stück nicht kennt nun die Stirn runzeln könnte, soll durchaus so sein. Wir können auch für den weiteren Verlauf des Textes nicht für Klarheit garantieren, denn in Drei Mal Leben geht es um so vieles:
Es geht um Physik („On the flatness of galactic holes“), es geht um Kindererziehung („Arnaud, mach heia“), es geht um die eigene Existenz („Wissenschaftlicher Tod!“) und dann wieder um Kindererziehung („Ich werde ihn bewusstlos schlagen!“). Es geht um so vieles, dass es beim ersten Schauen oder Lesen sehr verwirrend sein kann, dem Stück überhaupt zu folgen. Also versuchen wir doch im ersten Schritt einmal zu greifen, was der Regisseur Alexander Marusch am Rheinischen Landestheater Neuss aus dem Stück gemacht hat.

Wir blicken auf eine Bühne, die fast leer ist. Die Bühne des Schauspielhauses selbst ist erhoben um ein großes Podest, auf dem sich alles abspielt. Ein großer runder Bogen im hinteren Bereich dient als Auf- und Abgang. Ebenfalls sichtbar in diesem Bogen: eine von hinten durch Beamer bediente Projektionsfläche. Auf dem bespielten Podest stehen lediglich eine stylisch wirkende weiße Relax-Liege, welche gern im Stück als „Couch“ betitelt wird, sowie ein Beistelltisch. Fertig. Damit wird Bühnenbildner Achim Naumann d’Alnoncourt den Anforderungen Rezas sicherlich gerecht, denn diese verlangt die Bühne „[s]o abstrakt wie möglich“. Die Akten, die Sonja in der Vorlage liest, sind einem Telefonat über ein Headset im Ohr gewichen, sie nutzt nun ein Tablet sowie ein Smartphone, man geht mit der Technik.
Und so beginnt die erste Szene, der erste Abend, indem Sonja Telefongespräche führt, dabei viele Zahlen nennt, was all das viel wichtiger klingen lässt. Henri kümmert sich um das Kind, welches schreit. Das Kind schreit ständig. Es ist nie auf der Bühne zu sehen, es ist nur zu hören, wenn es schreit, wenn es essen will, einen Apfel oder später einen Keks, oder wenn es seine CD hören will, Cap und Capper (im Original Rox und Rouky). Henri und Sonja wirken zuerst wie ein typisches mittelständisches Ehepaar, das mehr oder weniger Feierabend hat. Zwar führt Sonja noch wichtige Gespräche, trägt aber doch schon das gemütliche Negligee, während Henri, leicht väterlich genervt sich um den schreienden Arnaud kümmert, denn wenn Sonja dies tut, beruhigt er sich nicht, er schreit vielmehr weiter. Die klassischen Probleme, die man sicherlich aus der Situation der frisch gebackenen Familie kennt.

Stimmung kommt auf, sobald die Finidoris die Wohnung betreten. Schnell kommt hier allerdings auch eines mit auf: Fremdschämen! Und das – das merken wir später – soll anscheinend so sein. Die Finidoris, besonders Ines, wirken wie eine Karikatur eines Barbie-und-Ken-Haushalts. Schauspielerin Alina Wolff verkörpert eine Ines, die schriller und quiekender nicht sein kann, es entwickelt sich ein Humor, der über den Schenkelklopfer nicht hinwegkommt, auch das Publikum fragt sich, ob all das so sein soll, manche Lacher kommen verlegen, man runzelt manchmal die Stirn, wenn beispielsweise Ines Henri nach den Flachen Halos fragt und ihm dann ihren Busen ins Gesicht streckt. Schriller geht immer, so räkeln sich ein leicht eingeschüchterter Henri und gut beschwippste Ines bald auf der Couch, ersterem ist das nicht recht, sein Fokus liegt immer wieder auf Hubert, der irgendwie nur durch schlechte Witze und übermäßig plakatives Lachen über dieselben auffällt. Man möchte meinen, man sieht die Schultheatergruppe des hiesigen Gymnasiums, die sich richtig geil fühlt.
Auch die Kostüme vermitteln diesen Eindruck. Eine echte Haarpracht sucht der Zuschauer vergebens, entweder Perücken oder, wie es bei Hubert der Fall ist, künstlich ergrautes Haar, um ihn älter wirken zu lassen. Besonders die Physiker Henri und Hubert lassen uns eine mit den Augen zwinkernde Ähnlichkeit mit den Titelhelden der Fernsehserie The Big Bang Theory, Dr. Leonard Hofstadter und Dr. Dr. Sheldon Cooper (wirklich, schauen Sie sich Sheldon an, wenn er Anzug trägt!) vermuten.

Was sehen wir also hier? Eine Verunglimpfung von Rezas inspirierendem Dialog-Feuerwerk ins Abstruse und Peinliche? Mitnichten! Das Team des RLT hat sich nämlich etwas dabei gedacht. Mit dem ersten Durchlauf, der uns eine Karikatur der Vorstadtfamilien zeigt, wie es Eine schrecklich nette Familie nicht besser hätte machen können, fangen die Schauspieler die Aufmerksamkeit des Publikums, durch den flachen Humor, der teilweise schon fast durch Slapstick unterstützt wird, setzt Dynamik ein, das Publikum lässt sich mitreißen. In johlendes Gelächter bricht manch einer aus, wenn Henri vor Hubert (physisch) kriecht, und ihn fragt, ob er denn krieche, womit gemeint ist, dass er ihm den Hof macht wegen seiner gewünschten Beförderung.
Einen vollkommenen Bruch hierzu zeigt die zweite Ausführung des Abends. Sie ist ruhiger, statischer, seriöser. Hier entfernen wir uns nun vom Millowitsch-Theater und begeben uns in seriösere Gefilde. Die Beziehungen zwischen den vier Charakteren stehen jetzt mehr im Vordergrund. Sie kreuzen sich. Ein Kind merkt, dass da irgendetwas knistert zwischen Hubert und Sonja. Es sollte bestimmt bei weitem nicht beim Unterdenrockfassen und Indiebrustbeißen bleiben, aber mehr gibt Reza auch nicht vor, wie nah genau sich wer steht, bleibt am Ende der Interpretation des Zuschauers überlassen. Zwar verabreden Sonja und Hubert sich in einem stillen Moment zum Essen, doch gibt sie ihm am Ende des Abends doch eine Abfuhr („Bis Donnerstag?“ – „Ganz bestimmt nicht.“), was aber dennoch mit einem Lächeln von Hubert aufgenommen wird. Nichts Genaues weiß man. Auch Ines wirkt ganz anders. Hier lernen wir ihren Charakter erst kennen. Sie ist nicht das naive Blondchen, weiß vielleicht ganz gut, was ihr Mann so treibt, erwischt ihn mit Sonja, sagt es ihnen auch, bleibt aber unklar, und setzt sich am Ende nicht durch, sagt, Sonja sei zu stark für sie, was sie sehr schnell verunsichert. Wolff hat den Wechsel raus. Diese Zwielichtigkeit der Ines, die bereits beim Lesen des Stückes Fragen aufwirft, ob sie nun weiß, ob sie die gehörnte Ehefrau eines Astrophysiker-Schönlings ist oder vielleicht doch das naive Blondchen?

Der dritte Durchlauf des Abends dann noch mal im wahrsten Sinne des Wortes ein Tapetenwechsel. Die Bühne wird beleuchtet in schwarz-weißen Gittermustern, das gesamte Wohnzimmer wirkt düster, hat aber durch die Gitter Struktur. Wir haben Physik sehr schnell abgewählt, verstehen also nicht auf Anhieb, was Hubert, die vierte Wand durchbrechend, an das Publikum zu richten scheint. Irgendetwas von der großen Einheitstheorie und von einem Elefanten und dessen zoologische Realität. Henri kommentiert das, hier sei irgendetwas paradox. Wir vermuten, das könnte so stimmen.
Wir werden durchgehend Zeugen von Machtspielchen, die Yasmina Reza geschickt in ihre Stücke einbaut. Hubert erwähnt, fast beiläufig, dass er irgendwie mitbekommen hat, dass ein Artikel mit ähnlichem Thema wie das von Henri, bereits veröffentlicht wird. Das ist ein herber Schlag ins Gesicht des erfolglosen Astrophysikers, denn durch seine Forschung hatte er sich erhofft, wieder zurück auf die Bühne der Sternenforscher treten zu können. Prinzipiell könnte man sagen, diese Machtspielchen durchziehen das gesamte Stück: Wer betreibt die bessere Forschung? Wer erzieht die Kinder am besten? Wer bereitet die leckersten Appetithäppchen zu? Ein Auf und Ab der Statuswippe, welches die vier Darsteller Stefan Schleue, Katharina Dalichau, Gregor Henze und Alina Wolff mit Fingerspitzengefühl darbieten.
Im Laufe der drei Durchläufe des Abends hat sich auch das Sounddesign verändert. Wird der erste noch begleitet von einer sich immer wiederholenden Art Bongo-Beat, welcher uns die Hektik des familiären Feierabends untermalt, hören wir im zweiten Durchlauf Chillout-Musik und im dritten einen Sound, der nicht leicht zu definieren ist, der nach Weltraum klingt, nach unendlichen Weiten. Und nach Physik, nach Zahlen, nach Mathematik. Unterstützt wird dieser von der Videoprojektion: Wir sehen unseren Planeten Erde, umschwirrt von weißen Objekten (Satelliten?). Mal entfernen wir uns von der Erde, mal nähern wir uns ihr. Die Grundstimmung passt, der letzte Durchlauf versetzt uns in eine Art Melancholie. Zusätzlich hören wir hier nun, vermischt mit dem Space-Sound, Cap und Capper: „Wer eure Freundschaft sieht, eine Freundschaft voll Vertrauen, wer euch sieht, wie ihr tollt, dass ihr euch gut sein wollt, weiß, was Freundschaft ist…“. In dem Zeichentrickfilm aus dem Jahre 1981 werden ein verwaister Fuchs und ein Jagdhund Freunde, die sich auch, wenn sie erwachsen sind, obwohl ihr Werdegang prädestiniert ist, nicht jagen und zerfleischen, denn Freundschaft ist stärker als Zwänge. Die Ironie springt dem Zuschauer hier ins Gesicht. Freundschaft finden wir zwischen Henri, Hubert, Sonja und Ines nicht wirklich, hier kann man dann doch eher vom Zerfleischen sprechen.
Was haben wir also unterm Strich gesehen? Ein tolles Theaterstück, das etwas zeigt, was wir alle kennen: Unangenehme Situationen ausgelöst von unangenehmen Menschen. Hubert sagt bereits zu Beginn zu Ines, da sind sie noch nicht bei Henri und Sonja, dass er genau weiß, dass Henri auf ihn angewiesen ist. Er scheint der Playboy unter den Astrophysikern zu sein. Und das lebt er aus, hält Henri mit Freude unter die Nase, dass es bereits eine Abhandlung zu seinem Thema gibt und genießt dabei noch die notdürftig hergerichteten Appetithäppchen. Da wirkt es am Ende fast ernüchternd, als sich herausstellt, dass die Forschungsarbeit von Henri ein viel größeres Spektrum umfasst, als jene, die im Konkurrenzartikel beschrieben wird. Wir können uns irgendwie nicht für in mitfreuen, obwohl er große Gesten des Sieges macht, fast schon wieder so peinlich wirkt, wie im ersten Durchlauf. Die Melancholie ist übergelaufen, die vor- und zurückwabernde Erde auf der Projektionsleinwand hat hypnotische Wirkung, wir sind irgendwie überwältigt.
In manchen Momenten hätten wir uns eine bessere Abstimmung zwischen der eingespielten Musik und der Sprache der Schauspieler gewünscht, manchmal gingen sie, nicht durch Mikrofon verstärkt, einfach in der Musik oder im allgemeinen Trubel auf der Bühne unter, sodass die eine oder andere vielleicht relevante Information bei uns in der zwölften Reihe nicht ankam. Dies allerdings nur als kleine Kritik am Rande.

Zum Schluss eine letzte Frage: Kennen wir das denn nicht alle? Wir sind auf jemanden angewiesen, den wir auf den Tod nicht ausstehen können? Jemand, der so grausam ist, dass man keine freie Minute mit ihm oder ihr verbringen will? Sind solche Leute nun aufeinandergetroffen? Genau können wir das nicht sagen. Wir geben auch gerne etwas Unwissenheit zu, vermuten, auch nicht alles richtig verstanden oder gedeutet zu haben, was allerdings keineswegs an der Arbeit des Theaters lag. Yasmina Reza ist vielleicht auch deshalb mittlerweile ein Klassiker geworden, weil man sie mehrfach sehen, mehrfach lesen, mehrfach missverstehen muss, um sie zu verstehen. Und gerade das mit der Physik, das können wir halt einfach nicht.
Das Stück Drei Mal Leben wird noch mehrfach in Neuss aufgeführt, es war ja gerade einmal Premiere. Wir empfehlen einen Besuch und würden uns über Rückmeldungen freuen, wie denn der Leser des Textes das Stück empfand, denn mit Sicherheit können wir sagen: Wir haben noch nicht alles gesehen!