Beitragsbild: Philipp Buron
“Orpheus with his lute made trees,
And the mountain tops that freeze,
Bow themselves when he did sing:
To his music plants and flowers
Ever sprung; as sun and showers
There had made a lasting spring.
Every thing that heard him play,
Even the billows of the sea,
Hung their heads, and then lay by.
In sweet music is such art,
Killing care and grief of heart
Fall asleep, or hearing, die.”
So lässt schon William Shakespeare Königin Katharina in seinem Historiendrama Heinrich VIII aus dem Jahr 1612/13 den griechischen Sagenhelden Orpheus beschreiben.
Der Mythos des Orpheus ist so alt wie die Literatur selbst. Neben literarischen Fassungen der antiken Schriftsteller wie Vergil oder Ovid, gibt es zahlreiche Bearbeitungen künstlerische Meister wie Jan Brueghel d.Ä., Gustave Moreau, Martin Mayer oder literarische Größen wie Johann Wolfgang von Goethe, Gustav Schwab, Tennessee Williams. Die Liste ist schier endlos.
Doch was macht Orpheus so begehrenswert für die Künstler aller Klassen? Die Geschichte um seinen Mythos ist schnell erzählt: Orpheus ist ein Sänger und Dichter, der mit seiner Lyra, die er vom Gott Apollon erhält, so schön singen kann wie kein anderer, dass sich ihm sogar die Bäume zuneigen, wenn er spielt. Er verliert seine Frau Eurydike durch einen Schlangenbiss. Klar für ihn: Es geht in die Unterwelt um deren Herrscher Hades und dessen Frau Persephone durch seinen Gesang davon zu überzeugen, dass er Eurydike zurückholen kann. Hades und Persephone willigen ein, allerdings unter einer Bedingung: Beim Aufstieg aus der Unterwelt darf Orpheus sich nicht zu Eurydike umdrehen. Gesagt, getan, Deal geschlossen. Und, es ist so klar, plötzlich hört er ihre Schritte nicht mehr, dreht sich um und Eurydike verschwindet wieder in der Unterwelt.

Eine Geschichte also, über Mann und Frau, über Tod, über Vertrauen, über Zeit. Sehr viele abstrakte Merkmale, die immer wieder das Potenzial mitbringen, in der Kunst behandelt zu werden. Und so suchte sich die englischsprachige Theatergruppe der Universität zu Köln, Port in Air, diese Vorlage aus und brachte gestern hierzu die Premiere von Fish in Styx. Was haben wir da, neben einem uns schmunzeln lassenden Wortspiel im Titel, gesehen?
Die Studiobühne ist leer. Während das Publikum den Saal betritt, kommen auch die Spieler sukzessive auf die Bühne, setzen sich dort auf den Boden. Sie tragen ihre Kostüme. Drei Frauen im roten Top und schwarzen Rock, drei Männer im blauen Hemd und Jeans, weitere Spieler mit Handwerkerhosen, hochgehalten von Hosenträgern. Als mitgebrachte Requisite auf der Bühne sehen wir einen Toaster, eine Gitarre und eine Teetasse samt Untertasse und einen in der Brusttasche des Hemdes getragenen Teebeutel. Schnell wird klar: Port in Air bedient sich eines einschlägigen Bühnenminimalismus und das gefällt uns, denn: Wir sind in einer Zeit angekommen, in denen kulissenverseucht vollgerümpelte Bühnen ihren Charme verloren haben.
Es wird deutlich: Die Spieler im blauen Hemd repräsentieren Orpheus, die Spielerinnen im roten Top Eurydike. Das war sicherlich eine dramaturgischer Entscheidung. Einen Orpheus und eine Eurydike darzustellen wäre zu komplex für einen gelungenen Fluss der Dynamik. Wir merken, dass jeder Orpheus und jede Eurydike irgendwie ihr eigenes persönliches Problem haben, somit ist die Aufteilung der Rollen in unterschiedliche Sphären der Protagonisten ein gelungener Kniff. Alle restlichen Spieler sind – vorerst – konsequentes Beiwerk für die Szenen, mal spielen sie die Toten in der Unterwelt, mal übernimmt eine von ihnen die Eurydike durch ihren Biss tötende Schlange, mal eine Versammlung anderer griechischer Sagengestalten. Schwerwiegendere Charaktere bekommen eigene Kostüme, beispielsweise die Herrscher der Unterwelt in schwarz oder der Fährmann Charon in gelben Gummistiefeln und Regenkleidung. Begleitet wird das Stück von zwei am Rande stehenden Erzählerinnen, die teilweise auch kommentierend in das Stück eingreifen, sich selber manchmal über die Erzählung nicht ganz einig sind.

Obwohl der Mythos des Orpheus das Potenzial mit sich bringt, einfach naturalistisch und mit staubtrockener Textlast heruntergespielt zu werden (und das passiert immer noch zu häufig) bedienen sich Port in Air vieler postdramatischer Elemente, die aus dieser 90-minütigen Vorstellung eine begeisternde Performance von Kurzweil machen.
Hauptaugenmerk sind hier besonders die Elemente des physischen Theaters. Regisseur Richard Aczel legt, neben der Auswahl der hervorragenden Texte, ebenso Wert auf großes Spiel mit Mimik und Gestik. Und hierfür benötigt es die richtigen Schauspieler. Zu oft haben wir schon Theaterstücke gesehen, die durch körperliches Spiel den Text reduzieren wollten, allerdings Schauspieler mit sich brachten, die eine so mimische wie gestische Starrheit inne hatten, dass es hier höchstens zu ungewollt komischen und definitiv zu unverständlichen Bildern kam. Aczel jedoch sammelt eine äußerst talentierte Truppe an jungen Schauspielern und Schauspielerinnen um sich, die sich alle aus Studierenden und Absolventen des Englischen Seminars der Uni rekrutieren, aber durchaus wirken, als hätten sie bereits Schauspielschulen von innen gesehen. Das merkt man an ihrer Sprache, an ihrer Haltung, der Körperspannung und an ihrem feinen Sinn und Gefühl für das Spiel. Hier von semiprofessionell zu sprechen, verkaufte das Ensemble unter Wert! So werden neben dem pointierten Schauspiel besonders die Choreografien zu einem Hauptaugenmerk.
Im Laufe des Stückes füllt sich die Bühne dann doch mit Kulisse. Obwohl der Begriff hier vielleicht zu übertrieben wirkt und wir daher auch weiterhin keine zugestellte Bühne unterstellen. Die Rede ist hier von einer großen Ansammlung weißer Beistelltische, Modell „Lack“ eines uns Deutschen sehr ans Herz gewachsenen schwedischen Möbelhauses. Dieses unscheinbare Möbelstück, auf das unsereins vielleicht höchstens kopfschüttelnd die Fernsehzeitung fallen lässt, nachdem jegliche Hoffnung für das deutsche Fernsehen verloren zu sein scheint, wird im Stück in dieser Vielzahl zu einem dynamischen und wandelbaren Bühnenelement. Die Tische können auf unterschiedliche Weise gestapelt werden, wirken dann wie Türme, nebeneinandergestellt wie Stege, auf denen man gehen kann, übereinander, mit der Tischplatte nach vorn Richtung Publikum wie eine weiße, undurchdringbare Wand. Und gerade dieser geniale Einsatz der Requisite ist es, der bei Port in Air ins Auge fällt. Man nehme einen Gegenstand X und mache daraus Y. So sind wir uns auch fast sicher, dass die drei unterschiedlichen Requisiten, die die drei verschiedenen Orpheus (was immer da der Plural sein mag) mit sich tragen, sicherlich einen tieferen Sinn haben, der sich uns allerdings nicht gänzlich erschließt. Ein Toaster? An dem Orpheus ständig mit einem Schraubendreher etwas zu reparieren versucht? Und der auch eigentlich gar nicht toasten kann, weil er nie eingesteckt ist. Eine Tasse Tee, deren Teebeutel nie wirklich darin landet? Irgendwie ziehen wir hier eine Deutung zu einem Monolog über die hohe Bedeutung des Frühstücks, der uns selber schon den Kaffeegeruch in die Nase zaubert. Aber im Gesamtkontext haben wir das nicht verstanden. Nur die Gitarre erschloss sich uns, sie ist sicherlich eine Anlehnung an Orpheus‘ Lyra, das ist verständlich.

Generell ziehen wir unseren Hut vor der Livemusik im Stück. Begleitet von einer Violine und einer Querflöte sowie der oben erwähnten Gitarre, bestechen die musikalischen Exkurse mit klassischem Operngesang, der teilweise überging in einen chorischen Gesang des gesamten Ensembles. Das passt, weil jeder Ton saß. Die italienische Arie, die wir selber nicht zuzuordnen vermögen, wurde von den beiden Erzählerinnen am Rand stehend ins Englische übersetzt, was dennoch teilweise wegen der Beschallung von verschiedenen Kanälen schwierig zu verstehen war, aber trotzdem als sehr kluger Kniff zu betrachten ist, zumal auch hier der Humor nicht zu kurz kommt. Denn manchmal streiten sich die Erzählerinnen auch über die korrekte Übersetzung.
Ebendiese narrative Ebene ist ebenfalls ein gelungener Handgriff: Neben der Erzählung, die, gemäß des epischen Theaters direkt an das Publikum gerichtet wird, wodurch der klassische Durchbruch der vierten Wand erreicht wird, gibt es auch hiervon unabhängige innerdiegetische Handlungen auf der Bühne. Besonders aufregend wird es, wenn diese beiden Ebenen miteinander interagieren, eine Spielerin sich mit einer Erzählerin streitet und ihr sogar das Mikrophon aus der Hand reißt um damit die Geschichte so zu erzählen, wie es ihr besser gefällt. Dies ist nicht nur ein äußerst lustiger Moment, sondern auch ein kluges Spiel mit den verschiedenen Ebenen des Theaters. Unsere Begleiterin sprach klug von der „viereinhalbten Wand“, was diesen Umstand sehr treffend beschreibt. Dies deutete sie so, weil die beiden das Geschehen immer sehr sarkastisch und trocken kommentierenden Moderatorinnen vielleicht sogar irgendwie die Verbindung aufrecht erhalten zwischen der Welt der Lebenden und der Toten, weil sie, sehen wir die Bühne nun als Unterwelt, als Welt der Toten, sich immer genau auf der Grenze zwischen Bühne und Auditorium befanden. Diese Beobachtung finden wir so clever, dass wir sie in unsere Besprechung mit übernehmen wollen.

Über die Texte, Gleichnisse und sprachlichen Bilder des Stückes wollen wir an dieser Stelle nichts sagen, denn die deutsche Sprache vermag nicht darzustellen, was das Englische, in dem das Stück größtenteils gespielt wird, vermittelt. Worum es nun wirklich geht? Um das Zurückblicken? Um Tod? Um die Beziehung zwischen Mann und Frau, aus damaliger wie aus heutiger Sicht? Um Zeit? Vergänglichkeit? Abschied? Der Mythos des Orpheus ist so vielseitig, wir trauen uns nicht, uns festzulegen, besonders nach dem Besuch von Fish in Styx, denn Port in Air legen zum originalen Stoff noch einmal bissig, humorvoll und klug ihre ganz eigene Schippe drauf.
Viel mehr wollen wir dem Leser einen Abstecher nach Köln empfehlen, denn, wie die Gruppe werbewirksam auf ihren Plakaten die Kölnische Rundschau treffend und vollkommen zurecht zitiert: „Nichts ist in Kölns freier Theaterszene mit Port in Air vergleichbar… einzigartig in der aktuellen Theaterlandschaft…“. Dem können wir nur zustimmen.
Das Stück Fish in Styx wird noch bis einschließlich nächsten Dienstag, 11. Juli 2017 jeden Abend jeweils immer um 20 Uhr auf der Studiobühne der Uni Köln der Uni Köln gespielt. Weitere Infos zur Gruppe oder zur Kartenreservierung sind auf den entsprechenden Homepages zu finden.
Seltsam, dass die Message der Emanzipation der Eurydike/der Frau und der Wichtigkeit des freien Willens offenbar komplett an euch vorbeigeflossen zu sein scheint…dabei wird man mehrmals mit der Nase darauf gestoßen. Die „unbegreiflichen“ Requisiten stellen wohl einfach die verschiedenen Seiten Orpheus‘ dar: Er kann vielleicht gut musizieren, aber wie lange kann dieses Talent die Liebe beflügeln, wenn er sonst nicht zu vielem taugt und keine anderen Fähigkeiten und Interessen bietet? Vielleicht solltet ihr euch das Stück noch einmal zu Gemüte führen. Denn toll war es in der Tat!
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Hallo Sia F.,
vielen Dank für Deinen Kommentar und für Deine Hinweise. Wahrhaftig haben wir nicht gesehen, dass der Toaster und die Teetasse eventuell für etwaige Unfähigkeit des Orpheus neben seinem musischen Talent steht. Dieser Gedanke ist aber sehr spannend.
Im Text befassen wir uns hauptsächlich mit der szenischen Umsetzung des Stückes, erwähnen in einem Absatz potenzielle Themen, wir nennen – zugegebenermaßen etwas oberflächlich – die Beziehung zwischen Mann und Frau, wollen uns deshalb gar nicht herausreden, du hast schon recht. Sollte Dir dieser inhaltliche Bezug zum Stück zu gering thematisiert sein, möchten wir uns dafür entschuldigen.
Viele Grüße!
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