Beitragsbild: Sandra Then; Serkan Kaya
Im wirklich wundervoll gestalteten Programmheft zu Bertolt Brechts Die Dreigroschenoper, die aktuell am Düsseldorfer Schauspielhaus gespielt wird, leitet der Dramaturg Robert Koall wie folgt ein:
„Ein einziger Widerspruch ist dieses Stück – und wahrscheinlich liegt in diesem Widerspruch das ganze Geheimnis. ‚Die Dreigroschenoper‘ geht zurück auf einen Stoff aus dem 18. Jahrhundert, den Bertolt Brecht in ein eigenes Libretto verwandelte, für dessen Musik wiederum Kurt Weill zeichnete. […] Dabei wollte es gar keine Oper sein, kein Singspiel, sondern ein Mittel, bürgerliche Doppelmoral zu entlarven, ein Nachdenken in Gang zu setzen. Also zeigt Brecht in seinem Text die Schlechtigkeit der Welt, die Verknüpfung von Markt und Sex und Verbrechen und die Verderbtheit des Menschen, für den vor der Moral halt immer erst das Fressen kommt.“

Klingt also zusammengefasst nach einem Stück ganz nach unserem Geschmack. Gespannt, zuvor hatten wir noch einmal den Ursprungstext aus dem Jahr 1928 gelesen, sitzen wir im Central, der großen Studiobühne des Düsseldorfer Schauspielhauses und blicken auf eine auf diese Studiobühne gebaute Guckkastenbühne. Im Zentrum ein riesiger Käfig aus Metall, halb eingelassen in den Bühnenboden. Im Käfig sitzen Musiker, maskiert, polieren die Instrumente, hauen gegen die Gitterstäbe, halten Hilfe-Schilder heraus oder riechen an überall hängenden Duftbäumchen. Um den Käfig herum freie Bühnenfläche, nichts steht herum. Begrenzt ist diese Bühnenfläche durch Metallgeflechte, die um die Bühne herumhängen, aneinandergebunden, sodass sie einen Vorhang auf allen drei Seiten bilden, der sowohl stabil und schwer ist, den Schauspielern dennoch eine Möglichkeit bietet, von allen Seiten auf die Bühne zu klettern.
Also? Wie war das mit der Moral, dem Fressen, dem Sex und dem Markt? Brecht sagte einmal, er habe mit der Dreigroschenoper „zu zeigen versucht, dass die Ideenwelt und das Gefühlsleben der Straßenbanditen ungemein viel Ähnlichkeit mit der Ideenwelt und dem Gefühlsleben des soliden Bürgers haben.“ Ob das geklappt hat? Hier unsere Meinung.

Erzählt wird die Geschichte des Gaunerkönigs Macheath, Mackie Messer genannt, der im viktorianischen London heimlich Polly Peachum heiratet. Ihr Vater, der Bettlerkönig Jonathan Jeremiah Peachum, der sein Geld damit verdient, Bettler mit Equipment auszustatten, mit dem sie effektiver Betteln können, hierfür dann Anteile an den Almosen verlangt, ist davon nicht begeistert. Als Polly sich, trotz Verlangens ihrer Eltern nicht dazu bereit erklärt, sich vom Gauner Mackie Messer wieder scheiden zu lassen, zeigen sie ihn bei der Polizei an, mit der Intention, dass dieser gefasst, verurteilt und gehängt wird. Wenn die Peachums wüssten, dass Mackie und seine Gaunerplatte Connections zum obersten Polizeichef Brown haben…
Die Handlung des Stückes ist so übersichtlich und simpel, dass auch wir einmal nicht den längsten Absatz der Besprechung in ihre Beschreibung investieren. Und natürlich wird der Ausgang auch nicht gespoilert.
Da kann sicherlich niemand widersprechen: Das Gesamtpaket der Inszenierung ist wirklich ansehnlich. Nicht nur mit der Bühne, die die Musik wortwörtlich in den Mittelpunkt rückt, hatte Regisseur Andreas Kriegenburg eine hervorragende Idee, auch die Kostüme von Andrea Schraad wirken in einzelner Betrachtung sowie im Gesamtbild wie ein Kunstwerk, von dem wir nicht die Augen lassen wollen. Zuordnen können wir dies sicherlich nicht ganz professionell, deshalb versuchen wir dieses Kunstwerk zu beschreiben als viktorianische Huren-, Gauner- und Bettlerkluft. Wir ergänzen auch noch das Wort Punk, auch, wenn das nicht so ganz zum Viktorianischen passt. Alles schmuddelig, kaputt, zerlumpt zerrissen, aber dennoch bunt, fast wie auf einem Jahrmarkt oder in der Freakshow. Hinzu kommt die Maske. Hinter einer weißen Kalk- oder Gips- oder Pappmascheeschicht verschwinden die wahren Gesichter der Darsteller. Mit rotem Lippenstift ein breites Grinsen aufgemalt. Da wollen auch wir es uns nicht nehmen lassen, hier den hundertfünfzigsten Joker-Vergleich zu bringen, auch dieses Stück macht Heath Ledger wieder ein bisschen unsterblicher. Und dabei wird die Intention der Schminke doch sehr schnell deutlich, denn sie trocknet und bröckelt dann im Laufe des Stückes langsam aus den Gesichtern der Figuren. Wie eine Fassade, die das wahre Gebilde dahinter zum Vorschein bringt.

Ein wahrlich mitreißendes Auf und Ab in der Dynamik auf der y-Achse des Stückes bietet der in der Mitte stehende Käfig. Er ist Dreh- und Angelpunkt des ansonsten sehr reduzierten Bühnenbildes wirkt nicht nur in seiner Größe und Masse wie ein omnipräsenter Begleiter durch das ganze Stück, er wird auch zur Spielfläche. Die Spielerinnen und Spieler besteigen ihn, klettern an seinen Seiten herum und interagieren auch mit den darin sitzenden Musikern um den musikalischen Leiter Franz Leander Klee, die ihre Songs, die Musik von Kurt Weill, sehr jazzig mit Posaune und Banjo auch ein bisschen an einen Jahrmarkt erinnernd, begleiten.
Ein wichtiges Element im Theater von Bert Brecht ist natürlich die epische Erzählung. Und diese kommt in der Dreigroschenoper nicht zu kurz. Häufig bedient man sich eines sprechenden Chors, der uns, eben wie ein Erzähler in einem Roman, die Geschichte erzählt. Der Chor, der sogleich am Anfang nach der Moritat von Mackie Messer auf dem Käfig stehend zu uns spricht, füllt den Bühnenraum schön aus, es sieht gut aus, wie sich die verschiedenen gruseligen Gesichter uns zuwenden und alle synchron zu uns sprechen, auch, wenn wir bei manchen Einsätzen doch meckern müssen, was das Timing angeht. Zu früh oder spät einsetzende Spieler machen es für uns, in der fünften Reihe sitzend, manchmal schwer, dem Text zu folgen. Dennoch, dem Bild und dem Stück selbst tut dies keinen großen Abbruch.

Die Dreigroschenoper am Schauspielhaus Düsseldorf zeigt, dass sich das Theater mehr und mehr ein spielstarkes Ensemble eingekauft hat. Im Zentrum steht Serkan Kaya, der als Mackie Messer begeistert. Der Schauspieler und Musicaldarsteller, der uns bereits bei The Queen’s Men überzeugte, spielt einen schmierigen Gaunerkönig, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, dass wirklich alle, nicht nur auf der Bühne, auch – Brecht sei Dank – im Publikum seinem Charme verfallen. Vollends aus den Socken haut uns Lou Strenger. Uns bekannt als Clara aus Der Sandmann spielt sie eine opernstimmengewaltige Polly und funktioniert in einer tollen Symbiose, gesanglich wie schauspielerisch mit ihrem Bühnenehemann. Doch ganz alleine verantwortlich fühlen für Gänsehaut beim Publikum muss sie sich bei ihrer einzigartigen Interpretation der Seeräuber-Jenny. Ein weiteres Gesangsfeuerwerk liefert später das Eifersuchtsduett zwischen Strenger und Tabea Bettin als Lucy. Doch abseits der gesanglichen verzeichnet das Ensemble auch hervorragende schauspielerische Qualitäten. Neben Kaya, der ein gutes Gefühl für das richtige Timing zwischen lustig und ernst besitzt, fällt besonders die Gaunerplatte auf, die mit Konstantin Lindhorst, Wolf Danny Homann, Kilian Land, Jonas Friedrich Leonhardi und Cennet Rüya Voß, ein Kollektiv an Schauspielern liefert, die besonders physisch sehr stark spielen, für großartige Lachmomente sorgen, aber auch mitreißend seriös wirken, wenn es sein muss. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass alle Spieler ihren Rollen einen gewissen Charme der Karikatur mitgeben. Besonders deutlich wird das bei Pollys Eltern, verkörpert von Rainer Philippi und Claudia Hübbecker. Philippi verkörpert einen Peachum, der irgendwie unter Ticks zu leiden scheint, manchmal ganz groß spielt, seriös, stark, manchmal ganz klein, verloren, hilflos. Mal macht er uns lokalkolorierend den Gründgens, mal den Hitler. Manchmal verstehen wir nicht, was er uns damit sagen will. Hübbecker gackert viel, bringt eine Frau Peachum, an die wir uns erst gewöhnen müssen, sehr verpeilt, irgendwie nicht bei der Sache, irgendwie am Ende aber immer am richtigen Ort. Die Eltern von Polly sind Extreme und das funktioniert schließlich ganz gut. Sonja Beißwenger als Spelunkenjenny und Thomas Wittmann als Polizeichef Brown sehen wir für ihre Strahlungswirkung schon fast zu selten. Ach wir wollen uns gar nicht lumpen lassen, am Ende waren einfach alle gut und haben einen hervorragenden Job gemacht.

Nicht zuletzt lag das auch an der Spielfreude. Wir haben gemerkt, dass jeder Schauspieler einfach richtig Bock hatte und schämen uns auch nicht für die Umgangssprache, die wir mit dieser Aussage hier mit einfließen lassen. Das Stück, gerade in der Inszenierung von Kriegenburg, bedarf einer schauspielerischen Motivation von mindestens 110%, die alle mit sich bringen um uns als Zuschauer mitreißen. So können wir auch nicht per se unterschreiben, was viele der Düsseldorfer Inszenierung vorwerfen: Längen. Es ist, wie bei der Dreigroschenoper ständig, der Fall, dass sich Schauspiel und Gesang doch erheblich voneinander trennen, sowohl von der textlichen Tiefe als auch von der Darstellung selbst. So haben manche Lieder womöglich viele Strophen und sind auch nicht immer so gut zu verstehen wie der gesprochene Text und natürlich wird während des Gesangs auch das Spiel reduziert. Hier aber von „Längen“ zu sprechen, halten wir für unverhältnismäßig. Und da die Düsseldorfer bereits kürzen, Text verschwinden lassen, Rollen reduziert besetzen oder geringerwertige Rollen wie die Huren durch ein geniales Puppenspiel aufbrezeln, halten wir dagegen und diagnostizieren trotz dreistündiger Laufzeit unterhaltsame Kurzweil. Ob die dynamische Energie der Schauspieler allerdings auch die hin und wieder ko-ho-mische Art Wörter auszusprechen zu verantworten hat, vermögen wir nicht zu beurteilen, vermuten da sicherlich irgendetwas Verfremdendes ganz nach Bert Brecht.

Die besondere Stärke der Bühnenreduktion sehen wir sodann bei der Hochzeit von Mackie und Polly. Hierfür hat sich der Gaunerboss mit seiner Platte in einen Pferdestall eingefunden. Wo Brecht in sein Stück schreibt, man hört dort dann „große Lastwagen anfahren, ein halbes Dutzend Individuen kommen herein, die Teppiche, Möbel, Geschirr usw. schleppen, womit sie den Stall in ein übertrieben feines Lokal verwandeln“, handelt es sich in Düsseldorf lediglich um auf große Pappen gemalte Möbelstücke. Die Pappen können auf der Bühne aufgestellt werden und kreieren somit das Bild einer wirklich improvisierten, aber doch liebenswerten Hochzeitslocation. Die Pappschilder, die sich nicht nur durch die Bühnenästhetik des gesamten Stückes ziehen, sind zudem ein schönes Element für lustige Szenerien. Beispielsweise, wenn ein Gauner sein Hochzeitsgeschenk, eine Standuhr, ebenfalls auf Pappe gemalt, präsentieren und aufstellen will, diese aber partout nicht halten will. Auch die Pferde des Pferdestalls werden nur durch die Körperhaltung zusammenstehender Schauspieler und eines zurechtgefalteten Pappedeckels als Pferdekopf zu einem sehr schmückenden Beiwerk, das dramaturgisch von wirklich nichtiger Relevanz ist, aber einfach super gut aussieht.
Generell können wir an die Inszenierung am Düsseldorfer Schauspielhaus eine eins plus in komödiantischer Unterhaltung vergeben. Neben den immer wieder auftretenden begeisternden Slapstick-Elementen, sind es die voneinander unabhängigen Regieeinfälle, die uns begeistern. Neben zahlreichen Wortwitzen in der Sprache, an die wir uns allerdings nicht mehr so [B]recht erinnern können, da wir nie wirklich gut darin waren, uns Witze zu merken, hangeln wir uns in den einzelnen Szenenbildern von einer komischen Rolleninterpretation zur nächsten, die teilweise passend, teilweise etwas eigenwillig wirken. So mussten wir doch sehr lachen, als Bettlerkönig Peachum einen kurzen Monolog in Kölschem Platt hielt und darauf auch noch ein Tusch vom Orchester folgte. Lange zog sich der Moment, in dem sich ein Bettler bei Peachum über seinen Stumpf beschwerte, der ihm nicht gefiel. In Düsseldorf spricht er ein schnelles Kauderwelsch, das niemand zu verstehen scheint, außer die Bettlerplatte, weshalb auch Peachum sich nach jedem Satz des Bettlers mit einem „Was hat er gesagt?“ an seine Bande wendet, die dann übersetzt. Was am Anfang wirklich sehr großartig wirkt, hat schnell seinen komödiantischen Ertrag verloren und sich fad geguckt.

Irgendwie gehört auch die Distanz zur Rolle zum Brechtschen Theater. Aus dieser fallen die Spieler hin und wieder bewusst heraus oder kommentieren das, was gerade geschieht. Das geht dann vom kurz intervenierenden „Oh, das war eine schöne Pause“ über zu einem verwirrt blickenden Serkan Kaya, der das Publikum auf sein Verwirrt-Gesicht aufmerksam macht und fragt, ob denn irgendwo ein roter Faden herumläge bis hin zum ebenjenem Kaya, der Minuten lang den Mackie Messer links liegen lässt, um unter Beweis zu stellen, wie viele tolle Akzente er sprechen kann. Böse Zungen sagen, das sei überzogen, wir allerdings fühlten uns davon sehr unterhalten, wobei wir überrascht die Stirn in Falten legten, als er, gerade beim arabischen Akzent angekommen, das Zünden einer Bombe andeutete. Immer wieder genießen wir aber den Blick über den Tellerrand, oder eben über die Textvorlage Brechts. Eigene Zusätze seitens der Düsseldorfer runden das Stück genau dort ab, wo Brecht Lücken lässt. Großen Spaß hatten wir beispielsweise, als sich Polly, die mittlerweile erfahren hat, dass ihr Ehemann Mackie auf seiner Flucht vor der Polizei in einem Bordell Halt gemacht hat und dort auch auf Lucy traf, eine Prostituierte, mit der er damals weitaus mehr hatte als eine Geschäftsbeziehung. Brecht selber geht, nachdem er sie das Eifersuchtsduett hat singen lassen, nicht mehr sonderlich auf die Beziehung der beiden ein. Kriegenburg (und uns) reicht das aber nicht. Dankenswerterweise lässt er einen kleinen Zickenkrieg zwischen beiden entstehen, der, kurz bevor ein fieser Giftmord passiert, in einem versöhnlichen Tortenessen der beiden endet. Grandioser Einfall!
Nun, was ist denn jetzt die Moral von der Geschicht? Brecht will die Amoralität derjenigen darstellen, die nur so tun, als handelten sie moralisch, die aber schließlich doch nur auf das eigene Wohl aus sind. Das tut er mit Peachum und Mackie Messer durchaus. Und wir müssen das jetzt als Zuschauer erkennen und überlegen, ob wir an uns und an unserer Welt etwas verbessern können. Zugegeben, die Düsseldorfer Inszenierung lässt diese amorale Moral nicht sonderlich durchscheinen. Hier und dort werden mal Wirtschaftsunternehmen angesprochen oder das Thema Terrorismus. Schlimm finden wir das allerdings nicht. Düsseldorf nimmt Brecht durchaus ernst, fällt aber auch häufig aus der Rolle, hier halt eher für Klamauk als für die Frage nach der heutigen Moral. Im Ganzen ist die Inszenierung viel zu nett, viel zu lustig, viel zu unterhaltsam um wirklich mit dem Finger auf das Kaputte einer Gesellschaft zu zeigen. Und so sehen wir hier eher eine Hommage an Brecht, an das Theater selbst und an das Schauspiel, denn eine kaputte Welt, haben wir ja sowieso. Wieso nennen wir die Inszenierung dann also nicht einfach „Brecht light“?

Die Dreigroschenoper wird noch mehrfach im Central in Düsseldorf aufgeführt. Nähere Infos auf der Homepage des Düsseldorfer Schauspielhauses. Wie immer empfehlen wir einen Besuch. Zudem empfehlen wir – diese Rüge sei uns erlaubt – eine vorherige Lektüre des Stückes oder zumindest eine Auseinandersetzung mit Brecht. Denn seine Stücke sind – das ist nichts Verwerfliches – nicht für jedermann. So beobachteten wir Leute, die diskret in der Pause verschwanden und, und das ist einfach nicht nett und respektlos, ganze Menschengruppen, die nach Beginn des zweiten Teils, während die Lichter bereits heruntergefahren wurden und das Spiel weiterging, den Saal verließen. Das nervt nicht nur die sitzenden Zuschauer, das ist auch respektlos den Schauspielern und dem Theater gegenüber. Es wird Zeit für einen Theaterknigge im Bücherregal, direkt neben der Bibel!
2 Gedanken zu “Fressen vor Moral: Die Dreigroschenoper in Düsseldorf”