Titelbild: Krafft Angerer, Kristin Steffen als Julia und Thomas Brandt als Romeo
Shakespeare und Köln. Das kommt uns bekannt vor, denn vor nicht allzu langer Zeit haben wir uns Hamlet angesehen. Zählt dies schon zu seinen bekanntesten Werken, so dürfte Romeo und Julia (sicherlich auch Dank der Schule) wohl so ziemlich jedem etwas sagen. Und ja, gefühlt sehen auch wir nun die X-te Interpretation dieses zeitlosen Klassikers – ist Romeo und Julia deshalb nicht langsam totgespielt? Nach unserem Besuch im Depot des Schauspiels Köln in dieser Woche ist unser Statement klar: Nein!
Normalerweise folgt als zweiter Absatz eine ausführliche Inhaltsangabe, auf diese wollen wir jedoch dieses Mal verzichten, in der Hoffnung, dass der Stoff um die verfeindeten Familien von Julia Capulet und Romeo Montague und der tragischen Liebesgeschichte der beiden Charaktere bekannt ist. Klassisch Shakespeare-like gibt es ausreichend Tote und zum Schluss stürzen sich Romeo und Julia (durch ein kleines Versehen in der ganzen Hektik) und ihre Familien ins Verderben. Tragisch.
Nun aber zur Umsetzung durch das Schauspiel Köln um Regisseurin Pinar Karabulut (geboren 1987, quasi noch ein Youngster auf dem Regieparkett der Theaterwelt). Der Vorhang geht auf und wir sehen, ja was sehen wir da? Wir sehen Figuren in glasartigen Kästen, jede wirkt wie eine tanzende Puppe in einem Schaufenster, jede steht für sich allein. Offen gesagt: wir sind verwirrt. Musik mit einem harten Bass setzt ein, man fühlt sich wie in einer Disko auf dem Zenit der Stimmung, vielleicht hat der ein oder andere noch eine illegale Substanz zu sich genommen. Doch während die Figuren tanzen lichtet sich langsam der Nebel: es ist der Maskenball, Akt eins, Aufzug fünf. Moment, Aufzug fünf? Korrekt! Schon zu Beginn wird klar, hier sehen wir nicht das klassische Romeo & Julia, hier werden Akzente gesetzt. Bravo!

Zurück zum Maskenball. Wir sehen die schrillsten Charaktere, natürlich alle irgendwo aus dem Drama Shakespeares entnommen. Dann ruft Lady Capulet (Yvon Jansen) ihre Tochter, und wie. Ein schrilles „Juuuuuuuliaaaaa“ ertönt. Als Julia (Kristin Steffen) nicht sofort kommt ruft die Mutter sie noch einmal. Schon jetzt ist klar: die Mutter muss einen am Sender haben, denn so ruft (hoffentlich) niemand seine Kinder. Herausstechen aus den ganzen extravaganten Figuren tun tatsächlich Romeo (Thomas Brandt) und Julia. Beide bestechen zunächst durch ihre Schlichtheit, tragen sie im Gegensatz zu den anderen Figuren nicht bunt sondern schwarz, als Maske sind beiden die Konturen eines Schädels ins Gesicht geschminkt. Unweigerlich verbindet man dieses Bild mit dem Tod. Eine tragische Vorankündigung dessen, was den beiden noch wiederfahren wird.
Nach einem sehr starken Anfang, wird es ruhiger, Text kommt hinzu, doch wer auf die Eins-zu-Eins-Umsetzung von Shakespeare wartet, der wird enttäuscht. Bewusst setzt die junge Regisseurin auf eine gesunde Mischung, denn Shakespeare geht auch modern. Und so gibt es immer wieder die klassischen Textteile (Julia: „Es war die Nachtigall, und nicht die Lerche.“), aber durchaus auch alltägliche Sprache. Besonders Mercutio (Simon Kirsch) fällt durch seine sehr vulgäre Sprache und sein animalisches, teilweise ekelhaftes, Verhalten auf.

Und hier möchten wir direkt anknüpfen: die Charaktere auf der Bühne sind alle auf ihre Art überzogen. Romeo und Julia wirken wie zwei unfassbar verknallte Teenager, die einerseits erwachsen sein wollen, andererseits noch sehr das Kindliche in sich tragen. Mercutio, Benvolio (Nicolas Lehni) und Romeo wirken zusammen wie eine Rasselbande Jungs, die immer einen schelmischen Plan haben. Lady Capulet ist die Inkarnation des Wahnsinns. Sie wirkt in ihrer Art wie eine alternde Diva, die nur so vor Narzissmus trieft, aber auch das abgrundtief Böse in sich trägt. Ein Charakter, der uns in dieser Fassung fasziniert und abstößt zugleich und sicher nicht einfach zu spielen ist, deshalb an dieser Stelle schon einmal unser Respekt an Yvon Jansen. Mercutio und Tybalt (Nikolaus Benda) sind Feinde bis aufs Blut, soweit so bekannt. Doch gerade diese beiden Charaktere in ein gewisses Tierschema zu stecken ist großartig. Mercutio trägt zu Anfang eine Wolfsmaske und ist in Grün gekleidet, Tybalt hingegen ist ein Fuchs und in Rot gekleidet. Wolf und Fuchs, zwei Tiere die dem Zuschauer Gewalt, Brutalität, Hinterlistigkeit, aber auch eine gespielte Freundlichkeit darbieten. Immer wieder verfallen beide in ihre tierischen Muster, wirken als wären sie besessen, hätten Tollwut oder einen Blutrausch. Das sorgt für Abwechslung, aber vor allem für Spannung, das merkt man auch an der Atmosphäre im Saal. Die Amme, gespielt von Sabine Waibel ist hingegen eine schillernde Dame, zumindest glaubt sie das. Sie schreckt auch nicht davor zurück alles anzubaggern, was nicht bei drei auf dem Baum ist. So haben wir die Amme ehrlich gesagt noch nicht gesehen. Eines ihrer „Opfer“ ist Lorenzo (Benjamin Höppner, auch in der Rolle des Fürst Escalus zu sehen). Lorenzo trägt schwarz, einen Hut und hat diverse Jesus-Sticker auf seiner Jacke befestigt. Er wirkt wie ein Sektenmitglied und bringt eine leichte Ironie in das Stück. Zuletzt wäre da noch Paris (Mohamed Achour, der auch den Apotheker spielt), der anfangs noch sehr unscheinbar wirkt, doch dessen Art später im Stück schleimiger und ekelhafter wird. Ein Charakter, der einem auf den ersten Blick unsympathisch ist, kein Wunder, dass Julia durchdreht als ihre Mutter sie dazu verdonnern will ihn zu heiraten.
Besonders faszinierend im Laufe des Stücks ist die Aktualität: das Ensemble bringt immer wieder Elemente ein, die der Zuschauer nur kennt, wenn ihm gewisse Filme und Serien bekannt sind. So wird ein Dialog zwischen Julia und ihrer Mutter schnell zu einem Rumgeschrei, das man aus „The Big Bang Theory“ zwischen Howard und seiner Mutter kennt. Die gesamte Gesellschaft ist auch so schillernd, aber doch so zerbrechlich, dass sie stark an die Bewohner des Kapitols der „Tribute von Panem“ erinnert. Und als Lady Capulet mit einer Art Gesichtsstraffungsmaske aufkommt erinnert sie uns an einen Charakter aus „Doctor Who“. Anspielungen, die man nicht unbedingt erkennt, die aber umso mehr Freude bereiten, wenn man mit ihnen etwas anfangen kann. Sprachlich bewegen sich die Rollen nicht nur in der Vorlage von Shakespeare. So kritisiert Mercutio auch mal das „Liebesgesabber“ von Romeo oder regt sich über die gut gekleideten Leute auf, die jeden Trend mitmachen (beste Grüße an alle Hipster!). Jeder, der sowieso nicht viel mit der Liebesstory um Romeo und Julia anfangen kann, sollte an diesen Stellen ein leichtes Lächeln im Gesicht haben. Shakespeare war ein großartiger Mann, unserer Meinung nach, doch die kleinen Seitenhiebe an seinem größten Stück lassen auch uns Schmunzeln. Kritik, aber mit Stil!

Das Bühnenbild ist zwar schlicht, aber nicht ganz unaufwendig, denn es besteht aus vielen Fensterelementen, die auch drehbar sind. So kann die Bühne beliebig verändert werden. Dem Zuschauer wird so eine gewisse Transparenz gegeben und selbst wenn Charaktere gerade nicht mitspielen, sich aber über die Bühne bewegen, sind sie doch immer präsent. Besonders spannend wurde dies nach dem Tod von Mercution und Tybalt umgesetzt, als diese immer wieder langsam schreitend an verschiedenen Stellen auftauchen. Ebenso werden die Elemente toll genutzt als die Mutter – fast wie von einem Dämon besessen – auf Julia zustürmt, die eigentlich einige der Drehelemente trennen, doch die Mutter läuft durch sie wie durch Flügeltüren, die sie aufschlägt. Eindrucksvoll und es unterstreicht immer wieder das Handeln der Darsteller.
Die Handlungen der Darsteller hingegen sind voll auf die Körperlichkeit und die Stimmgewalt der Schauspieler ausgerichtet. Viel Drumherum gibt es nicht zu sehen. So wird der eigentliche Degenkampf zwischen Mercutio und Tybalt mehr zu einer Schlägerei. Diese ist besonders schön anzusehen, schade an dieser Stelle, dass der Kampfstil nicht durchgezogen wird. Sicher, Mercutio muss noch verwundet werden, doch eine Verwundung ohne Degen und wenn zuvor mit Fäusten gekämpft wurde? Für uns schwierig. Da sowieso mit Kunstblut gearbeitet wurde, hätte man sicherlich eine andere Lösung finden können. Oder man hätte es stilistisch wie bei Hamlet umgesetzt. Auch die Balkonszene wird nicht auf einem Balkon dargestellt, sondern man bedient sich wieder der Drehelemente um die nötige Nähe und Distanz zwischen den Spielern herzustellen. Eine besonders unterhaltsame Situation ist auch das Zusammentreffen von Lorenzo und der Amme, die sich schlagartig ineinander verlieben und Songzeilen wie „Last Christmas, I gave you my heart“, „I wanna dance with you“, „I was made for loving you baby“, „Motherfucker“ oder „Sexbomb“ schräg und schrill schmettern. Man mag es überzogen finden, vielleicht auch nicht dem eigentlichen Stoff gerecht werdend, doch so wird der alte Will noch einmal etwas entstaubt, besonders für die vielen anwesenden Schul- und Studiengruppen ein toller Moment. Generell ist das immer wieder überzogene Spiel einiger Charaktere sehr maßgebend in dieser Inszenierung und dennoch versteht Karabulut es an den richtigen Momenten dem Stück wieder die nötige Ernsthaftigkeit zu geben und das schafft eine tolle Dynamik.

Ein Element, das besonders oft im postdramatischen Theater genutzt wird ist das Video. Auch in dieser Inszenierung wurden Videoeinspielungen genutzt, doch diese sollten nicht zu sehr im Fokus stehen, deshalb wurden sie weit hinten projiziert und waren durch die verstellten Drehelemente nicht immer allzu gut zu sehen. Wir sind uns selbst nicht sicher ob diese Videos damit nicht ein Stück weit überflüssig waren, doch müssen wir auch festhalten, dass diese Einspieler den Zuschauer vom eigentlichen Geschehen abgelenkt haben und dadurch, dass sie sich immer wiederholt haben auch dem Zuschauer die Zeit gaben dem aktuellen Text intensiver zu lauschen. Ein Element über das sich sicherlich streiten lässt.
Zum Schluss dann nimmt das Drama seinen Lauf. Julia erwacht und findet den leblosen Körper Romeos vor. Eine Szene in der auch Stille im Saal herrscht und Kristina Steffen durchbricht als Julia diese Stille nicht. Lange spielt sie den Moment des Aufwachens, das Vorfinden des leblosen Romeos und die aufkommende Verzweiflung aus. Doch wer jetzt großes Geschrei oder eine verzweifelte Julia erwartet täuscht. Jeder weiß, was Julia sich nun antut und darauf konzentriert sich auch diese Inszenierung: sie hält die Spannung aufrecht, Julia trauert innerlich, doch dann schaut sie ein letztes Mal ins Publikum, beginnt zu lächeln, mit einem leichten Ansatz von Wahnsinn, Black! Wow! Ein Moment der bleibt und man hört, trotz der Stille, diesen Moment nachhallen, denn für einige Sekunden klatscht niemand, erst nach einer gefühlten, kleinen Ewigkeit, der erste Ansatz eines Applauses. Ein tolles Ende, das bewusst auf das eigentliche Ende der Vorlage verzichtet. Modern eben.

2,5 Stunden Romeo und Julia, ohne Pause wohlgemerkt! Das hat Respekt verdient, denn die Darsteller waren oftmals lange auf der Bühne. Aus eigener Erfahrung wissen wir wie anstrengend auch schon 45 oder 60 Minuten Aufführung sein können. Wie lautet unser Resultat?
Ja, wir geben zu, es musste eine Nacht ins Land gehen, um das Gesehene zu verdauen, denn obwohl das Ensemble immer wieder mit der Geschwindigkeit spielen haben wir doch viele Eindrücke in der kurzen Zeit gesammelt. Das mag dem ein oder anderen zu viel sein, auch der Ansatz mag hartgesottenen Shakespeare-Fans nicht in den Kram passen, aber uns hat diese Inszenierung gefallen und wir würden jedem jederzeit raten sich diese Produktion anzusehen. Einzig die kleinen Aussetzer der Mikrofone haben den Eindruck etwas gedämpft, aber deshalb ist Theater vor allem eines: live! Wahrscheinlich gibt es die Produktion nur noch bis Ende 2017 zu sehen, da heißt es sich zu beeilen, aber es lohnt sich definitiv. Ein kurzweiliger Abend, an dem wir keine Pause vermisst haben. Und Pinar Karabulut werden wir definitiv im Auge behalten, denn wir glauben, dass wir noch viel Sehenswertes von ihr in den nächsten Jahren geboten bekommen werden.
Alle Infos zur Produktion und weiteren Terminen gibt es auf der Seite des Schauspiel Köln.

3 Gedanken zu “Von Liebe, Hass, Leben und Tod – Romeo & Julia, ein Klassiker übersetzt ins Moderne”