Mauer aus Reisbrei: Who’s gonna pay for it? – Im Schlaraffenland

Beitragsbild: Björn Hickmann/Stage Picture

Hin und wieder hat sich der eine oder andere Theatergänger ja schon über unsere Herangehensweise echauffiert: Wir können doch während eines Theaterstücks nicht mitschreiben, wenn wir auf unseren Block blicken, um uns Notizen zu machen, verpassen wir das Stück. Liebe Kritiker, wir können Euch dahingehend beruhigen, dass wir irgendwie ein Gefühl, eine Intention dafür entwickelt haben, wann wir kurz die Augen vom Bühnengeschehen abwenden können, um uns den einen oder anderen Gedanken, der für die spätere Rezension vielleicht nützlich sein kann, zu notieren. Somit ist unsere Herangehensweise also diese: Wir schauen, bewaffnet mit Stift und Papier ein Theaterstück und wenn uns hierbei etwas Spannendes auffällt, ein kluger Kniff im Bühnenbild, ein tolles Musikstück, ein interessantes Zitat im gesprochenen Text, dann machen wir uns eine Notiz.

Nachdem wir aber nach der Premiere von Im Schlaraffenland, die wir gestern im Rheinischen Landestheater erleben durften, in unsere Notizen schauten, stellten wir fest, dass da etwas nicht stimmte. Irgendetwas war anders. Diese Mitschriften unterschieden sich von allen zuvor gemachten. Was war da los?

Von vorn: Bei Im Schlaraffenland handelt es sich um ein Rechercheprojekt auf Basis von Ludwig Bechsteins Beschreibungen des Schlaraffenlandes, in dem „Häuser gedeckt sind mit Eierfladen, und Türen und Wände […] von Lebzelten und die Balken von Schweinebraten sind“, wo um jedes Haus ein Zaun steht, der „von Bratwürsten geflochten“ ist, wo die Spanferkel gebraten umherlaufen, „und jedes trägt ein Tranchiermesser im Rücken, damit, wer will, sich ein frisches, saftiges Stück abschneiden kann“, wo, „wenn es regnet „es lauter Honig in süßen Tropfen“ regnet, wo, „[w]er eine alte Frau hat und […] sie nicht mehr [mag], weil sie ihm nicht mehr jung genug und hübsch ist, der kann sie dort gegen eine junge und schöne vertauschen“, wo „wer nichts kann, als schlafen, essen, trinken, tanzen und spielen“ zum Grafen ernannt wird. Ein kurzes Märchen also, das eine Welt beschreibt, in der wir uns alle sicherlich pudelwohl fühlen, Morus‘ Utopia in Light, könnte man sagen, ein Text, bei dessen Lektüre, besonders in den Absätzen, die die frei herumlaufenden, bereits zubereiteten und uns in den Rachen springenden Nahrungsmittel beschreiben, uns das Wasser im Mund zusammenläuft.

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Foto: Björn Hickmann/Stage Picture; Anna Lisa Grebe, Katharina Dalichau, Christoph Bahr

So zog man also los mit diesem Text und befragte explizit Neusser nach ihrem eigentlichen Schlaraffenland. Heraus kam viel Material, sehr viel Material. So viel Material, dass wir nach der Aufführung überrascht in die Mitschriften blickten und uns fragten, was genau wir da eigentlich mitgeschrieben haben. Wir sind – kein Zweifel – belehrt worden. Teilweise tiradenartig bombardiert mit Informationen über Konsumverhalten, den Kornspeicher der Regierung und den Kulturschock Schützenfest. Da ist die Rede von „Snacking“, Essen to go, alles muss schneller gehen, da ist die Frage nach Revolution und danach, was man dafür hinter sich lassen muss, da ist die Frage, was gutes Essen ausmacht, ob es billig sein muss oder gut, denn beides geht wohl nicht, da ist der Vorwurf, dass die Unzufriedenheit mit dem Bestehenden typisch menschlich ist. Auch schreckt man nicht zurück vor brisanten Themen: manch einer verdient durch seine Sozialleistungen wie Hartz IV mehr als ein Erwerbstätiger, hierauf folgt laut und deutlich wahrnehmbare Zustimmung aus den Reihen des Publikums: „Da hatter Recht!“. Auch ernüchternd: Eine Berechnung, wie lange wir alle wirklich mit den Getreidereserven der Bundesregierung auskommen, von denen alleine in Neuss 8.000 Tonnen lagern. Aber, so wird relativiert, geht es ja auch nur um eine kurzfristige Versorgung der Bevölkerung mit Mehl und Brot bei Krisen, Terror oder Naturkatastrophen.

Inhaltlich wollen wir gar nicht mehr weiter auf die im Stück dargebotenen Rechercheergebnisse eingehen. Die präsentierten Fakten sind, daran besteht kein Zweifel, durchaus interessant, die Recherche sahnt zweifellos das Prädikat „erfolgreich“ ab und jeder, der sich für diese Themen interessiert, ist bei Im Schlaraffenland goldrichtig. Doch stoßen wir uns auch gleichzeitig daran, denn es ist und bleibt ja doch irgendwie nur eine Präsentation von Fakten.

Das Stück von Regisseurin Carolin Millner hat einen eigentlich simplen Aufbau: Es beginnt mit der Rezitation von Bechsteins Text, der von den drei Schauspielern Christoph Bahr, Katharina Dalichau und Anna Lisa Grebe, ihre Köpfe in eine Mauer aus Weizensäcke darstellende Styroporkügelchenkissen steckend, fast in Gänze wiedergegeben wird. Dann kommt die Frage nach dem persönlichen Schlaraffenland auf, welche dann wiederum in collagiert angeordneten Szenen, mit verhältnismäßig viel gesprochenem Text beantwortet wird. Zumindest wird der Versuch gestartet. Denn schnell verliert sich das Stück in sich selbst, liefert so viele Fakten, dass wir als Zuschauer nach einer Zeit kaum noch folgen können. Gewürzt wird all dies noch durch Neusser Lokalkolorit, das wir als nicht-Neusser sicherlich nicht immer wahrnehmen und verstehen konnten. Irgendwie ist da mal ein Bild des Quirinus Münster, dann das Neusser Heimatlied, das uns eher daran erinnert, dass es mehr Schokoladenhersteller geben sollte, die eine Garantie für 27 Nüsse in der Tafel geben, und dann erzählt Christoph Bahr vom Schützenfest, das, darauf sind die Neusser sehr stolz, als das weltweit größte Schützenfest angesehen wird. Wir tun uns schwer damit, das Gesehene wirklich zu greifen, es kommt immer wieder Nachschub an Information, die aber schnell wieder in den Händen zerrinnt, wir können sie uns gar nicht wirklich vor Augen führen, denn es kommt sogleich wieder neues Material. Für Entspannung sorgen erheiternde Sequenzen wie ein nüchterner Vortrag Bahrs über Veganismus und Politik, der im wahrsten Sinne des Wortes begraben wird unter immer mehr auf ihn geworfenen Weizensäcken, was ihn von seinem nüchtern vorgetragenen Monolog aber nicht abhält. Auch ein wundervolles Schattenspiel kurz vor Ende des Stückes, das zwar mehr als ansehnlich ist, allerdings irgendwie fehl am Platz wirkt, denn es kommt uns so „angeklebt“ vor, vollkommen ohne stilistischen Bezug zum vorher Gesehenen, sodass es irgendwie nicht ins große Ganze passt sondern eher erscheint wie Stück plus Schattenspiel, eine coole Idee, die irgendwie noch hinein musste.

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Foto: Björn Hickmann/Stage Picture; Christoph Bahr, Katharina Dalichau

Das Bühnenbild ist simpel wie genial. Zugegeben, wir haben sie nicht gezählt, aber die oben genannten Kissen, dargestellt als „80 Weizensäcke“ bringen dynamisches Potenzial. Anfangs sind sie zu einer Mauer gestapelt, werden dann später über die gesamte Bühne verteilt aufgestellt, dienen als Sitzsack, Schutzwall, Bunker, Objekt der Begierde, werde somit vom Teil der Dekoration manchmal auch zum Requisit und hauchen trotz ihrer Blässe und Plumpheit dem Stück durch die Schauspieler enormes Leben ein. Ferner wird die Inszenierung unterstützt durch Beamerprojektionen, die aber, neben einem Bild des Quirinus-Münster häufig nur angedeutet und schemenhaft Bilder als schmückendes Beiwerk liefern.

Winston Churchill sagt man viele kluge Sprüche nach, wobei „No Sports!“ als Antwort auf eine Reporterfrage, wie er trotz Zigarren und Whiskey ein so hohes Lebensalter erreicht habe, enttäuschenderweise wohl gar nicht von ihm stammt. Was er allerdings sehr wohl einmal gesagt haben soll: „Die meisten Menschen sind bereit zu lernen, aber nur die wenigsten, sich belehren zu lassen.“ Das ist wirklich klug und das kann man, unabhängig davon, wer es wirklich gesagt hat, so stehen lassen. Millners Im Schlaraffenland belehrt extrem, wedelt dabei immer wieder mit dem moralischen Zeigefinger, manche Szenen stoßen uns gar sehr moralinsauer auf. Aber, das müssen wir ebenfalls zugeben, wer in ein Stück mit ebenjenem Titel geht, sollte auch nichts anderes erwarten. Auch Intendantin Bettina Jahnke sagt nach der Aufführung, dass die Inszenierung moralisch belehren sollte. Somit attestieren wir Im Schlaraffenland ohne Zweifel, dass es grundsätzlich seinen Job sehr richtig macht.

Auch die Schauspieler sind sehr zu loben. Bahr, Dalichau und Grebe harmonieren als Dreiergespann, ergänzen sich, wissen, auf der kleinen Studiobühne des Theaters, ganz nah am Publikum mit der Lautstärke ihrer Stimmen zu spielen, um eine Nähe, irgendwie eine intime Atmosphäre zu schaffen. Besonders nah wird es, wenn das Licht über dem Publikum angeht, das tut es ganz langsam, beiläufig, zuerst gehen die Schauspieler darauf nicht ein, sprechen vielleicht manchmal einen Zuschauer direkt an. Bis dann Katharina Dalichau irgendwann in der ersten Reihe sitzt, nachdem sie zwei Zuschauerrinnen bat, sich auf einen ihrer Weizensäcke zu setzen oder Anna Lisa Grebe durch die engen Reihen läuft, Zuschauer begrüßt und sich dann in die engen Sitzreihen quetscht, um von dort aus den Dialog mit ihren Mitspielern weiterzuführen. Dies sind nette Schmankerl, es ist interessant, das Gespielte wirklich so hautnah zu erleben, irgendwie Teil des Ganzen zu sein. Es wird eine Aura geschaffen, die sich anfühlt, als seien wir weniger im Theater als in einem großen Wohnzimmer mit vielen Stühlen, in dem wir mit drei Experten über das Schlaraffenland reden. Irgendwie fühlte sich das nett und vertraut an. Für sehr lange Zeit allerdings zieht das Stück das Publikum durch Beleuchtung mit auf die Bühne. Ein Drittel der Spielzeit, wenn nicht vielleicht sogar mehr, ist das Auditorium beleuchtet, obwohl die Spielsequenzen darin sich auf die oben beschriebenen beschränken. Uns erschließt sich der Sinn nicht ganz. Soll das betonen, dass wir als Zuschauer hier das Ziel der Belehrung sein sollen? Sind wir das nicht sowieso? Sollen wir unsere Umgebung besser wahrnehmen? Den Sitznachbarn kennen lernen? Soll sich ein Wir-Gefühl entwickeln? Sobald die Schauspieler das Auditorium verlassen und alles hell bleibt, verflüchtigt sich diese oben beschriebene Wohnzimmer-Atmosphäre, es wird mehr und mehr unangenehm in dem hellen Licht, dessen Sinn sich uns verbirgt, es fühlt sich nicht mehr an wie Theater, mehr wie Vorlesung in der Uni.

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Foto: Björn Hickmann/Stage Picture; Anna Lisa Grebe, Katharina Dalichau

Bei der starken Faktenflut stellten wir uns nach dem Stück eine Frage: Ist weniger mehr? Es ist uns bewusst, dass es sich bei Im Schlaraffenland um ein Rechercheprojekt handelt und dass sicherlich so viel Material wie möglich dargeboten werden sollte. Aber irgendwie suchten wir häufig den roten Faden, sofern es einen solchen bei einer Collage überhaupt gibt oder geben muss. Wir sind uns noch nicht einmal sicher, ob am Ende wirklich beantwortet wurde, was denn genau das Potenzial hat, ein Schlaraffenland zu werden, inwiefern das Stück nun eine Meinung vertritt oder eher nur eine Einladung für uns Zuschauer ist, uns selber Gedanken zu machen, was denn unser persönliches Schlaraffenland ist. Darüber sinnierend haben wir uns gefragt, ob das Schlaraffenland mit Luxus gleichzusetzen ist, denn schnell kamen Gedanken wie: Einfach mal nichts zu tun haben, ein gutes Buch lesen, eine richtig gute Pizza beim Italiener, ein lustiger Abend mit guten Freunden. Wenn man all dies hat und sorglos genießen kann, ist das für uns Luxus. Wenn all dies im Überfluss vorliegt, ist es das Schlaraffenland. Dabei wollen wir das doch alles gar nicht im Überfluss, denn dann verliert es den Wert und die Einzigartigkeit.

Irgendwie ist es das, was wir als Ausbeute für diesen Abend mitgenommen haben. Mit Blick auf die präsentierte Faktenflut ist das vielleicht wenig. Aber mehr kam bei uns nicht an. Wahrscheinlich werden wir morgen oder übermorgen schon wieder vieles vergessen haben.  Im Schlaraffenland ist definitiv eine Einladung für jeden, sich einfach einmal einzulassen auf all das Herausgefundene, und für sich selber zu entscheiden, wie viel man davon mitnimmt. Vielleicht war es einfach zu viel, vielleicht setzt bei so viel Moral irgendwie automatisch eine pampige Trotzhaltung ein, vielleicht hat Churchill recht und wir wollen uns nicht gern belehren lassen, vielleicht kamen wir auch gedanklich gar nicht immer wirklich hinterher und müssen das Stück noch mal gucken, und sowieso sind wir viel zu wenig Neusser, um wirklich alles Dargebotene wirklich verstanden zu haben. Und dennoch war der Abend nicht langweilig, es gab Längen, das gestehen wir uns ein, aber das Stück war dennoch schnell vorbei, trotz Textflut.

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Foto: Björn Hickmann/Stage Picture; Anna Lisa Grebe

Im Schlaraffenland ist auf jeden Fall einen Theaterbesuch wert, denn jeder sollte sich einlassen auf das, was das Projekt herausgearbeitet hat und auf diese ansehnlich stilisierte Form darstellt. Vielleicht erkennen andere ihr Schlaraffenland ja früher und lassen sich weniger belehren sondern lernen mehr. Wir sind auf jeden Fall gespannt zu erfahren, welches Potenzial noch vorhanden ist, hinter dieser Mauer aus Reisbrei, durch die es zuerst gilt, sich durchzufressen!

Das Stück wird noch weitere neun Male aufgeführt, Infos hierzu, zum Projekt und zum Thema selbst, sowie Tickets sind wie immer auf der Seite des Theaters zu finden.

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