Text: Werner Alderath (werner.alderath@theaterwg.de)
Beitragsbild: „Die Verwandlung“, Theater Essen-Süd
Das Theater Essen-Süd. Eigentlich wollen wir das Stück etwas beschreiben und unsere Eindrücke dazu kundtun, doch ist es nicht vermeidbar auch über das Theater zu sprechen. In den letzten Jahren hat man einiges gesehen, doch so eine kleine, gemütliche Bühne ist uns noch nicht begegnet. Nachdem man einen Parkplatz in der Nähe der S-Bahn-Station gefunden hat, frage ich verdutzt eine Freundin „Das soll hier sein? Hier sind doch nur Wohnblocks“. Google Maps sagt mir so viel wie „Beweg dich, es ist nicht weit!“ Gesagt, getan und siehe da, ganz unscheinbar hängt ein Schild an einem kleinen Tor, wir gehen hinein und stehen… ja, worauf stehen wir eigentlich? Auf einem Tiefgaragendach, hinter einem Wohnblock. Und da ist es: das Theater Essen Süd. In einem kleinen Bungalow gelegen. Der Spielraum, wo sich die Bühne befindet, fühlt sich ein bisschen wie ein Wohnzimmer an: Laminatboden, klein, wenig Stühle, wenig Technik. Es wirkt etwas spartanisch, aber doch einladend, ein bisschen als wäre man bei Freunden zu Gast, die einem mal eben ein bisschen was vorführen.

Und doch möchten wir noch einmal etwas loswerden, bevor wir dann aber wirklich ans Eingemachte gehen! Leider war es wegen des Wetters und einiger kurzfristiger Absagen an dem Abend nicht sehr voll (gerade einmal elf Personen, gut 20-25 passen in den Raum, wenn man zusammenrückt sicher auch noch ein paar mehr). Und dann verschwinden zwei auch noch sang- und klanglos, stören dabei mehrmals die Atmosphäre durch ein vibrierendes Handy, rumtippen auf Ebengleichem und einem Rein- und Rausgehen aus dem Raum. Nein, wir wissen nicht ob da vielleicht ein Notfall war oder ob das einfach nur schlechte Erziehung ist. Was wir aber wissen ist, dass man so nicht nur die Zuschauer, sondern auch die Schauspieler stört. Wenn man den Saal verlässt und auf einen Anruf wartet, dann muss man eben draußen bleiben. Ein Phänomen, das wir kürzlich auch in großen Theatern beobachtet haben, wo Leute kurz nach Ende der Pause in Massen den Saal verließen. Für uns ein No-Go. Halte ich es nicht mehr aus, warte ich eben bis zur Pause und gehe dann in ebendieser. Punkt.
Jetzt aber wirklich zum Stück. „Die Verwandlung“ von Franz Kafka stand auf dem Plan. In der Verwandlung geht es um Gregor Samsa, einen Prokuristen, der, einfach gefasst, etwas von seinem Job und den sonstigen Lebensumständen genervt ist. Im Laufe der Erzählung („Die Verwandlung“ ist nämlich gar kein Drama!) verwandelt sich Gregor Samsa immer mehr in einen Käfer. Schon zu Beginn hat er diese Gestalt angenommen und kommt so nicht mehr aus dem Bett. Die Familie weiß mit dem Umstand nicht wirklich etwas anzufangen, akzeptiert dies aber dann, doch Gregor sorgt dafür, dass der Haussegen schief hängt. Der Vater bewirft ihn letztendlich aus Wut mit einem Apfel und Gregor stirbt an den Folgen einer Verletzung. Was hier sehr platt ausgedrückt ist hat natürlich viele Bedeutungen. Auch hat die Verwandlung in den Käfer seine Bedeutung: Druck der Gesellschaft, Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben, man ist eingeengt, ohnmächtig, handlungsunfähig. Allein die Analyse würde einen ganzen Beitrag einnehmen.
Doch wie hat das Theater Essen Süd die Botschaft transportiert? Eins vorab: wer eine Inszenierung dicht an der Vorlage erwartet, wird enttäuscht, denn in dieser Darstellung ist Gregor Samsa ein an Alzheimer erkrankter Patient. Der kritische Deutschlehrer wird nun die Stirn in Falten legen, die Brille etwas herunterziehen und drüber schauen und zu Recht fragen: „Wie bitte?“ Ja genau, Gregor Samsa als Alzheimerpatient! Ehrlich gesagt ein Gedanke, der uns so nicht gekommen wäre. Das Schauspieltrio um Raphael Batzik, Thilo Matschke und Moritz Mittelberg-Kind erklären uns nach der Aufführung, dass dies aus einem persönlichen Schicksal entstammt. Daraufhin kam die Idee Kafkas Vorlage so zu übersetzen.
Nun ist es eben auch so, dass drei Männer auf der Bühne stehen, Kafkas Vorlage enthält aber auch Frauen. Sehen wir nun Männer, die wie zu Zeiten Shakespeares, glatt rasiert als sogenannte Boy Actors agieren, um Frauen zu imitieren? Nein, denn ein Großteil der Charaktere wurde einfach gestrichen, einzig Grete bleibt als Charakter und sie wird zu Beginn von Thilo Matschke gespielt. Und Thilo Matschke hat wuschelige Haare, einen Bart, behaarte Beine, Arme und auch Brusthaar. Als er in einem Kleid auf die Bühne kommt, ist das zunächst gewöhnungsbedürftig, doch mit der Zeit stört dieser Umstand immer weniger. Viel mehr fasziniert die Doppelfunktion, die Grete in diese Inszenierung einnimmt, denn als Schwester kommt sie beiden möglichen Bedeutungen nach: sie ist die Schwester Gregors, aber auch eine Art Krankenschwester oder Pflegerin, was dadurch deutlich wird, dass sie (bzw. er, also der Darsteller) abgeht und in Richtung des Offs immer wieder den Satz „Gregor schläft jetzt, Herr Samsa“ sagt.

Generell ist die Inszenierung sehr einfach gehalten, das Bühnenbild ist übersichtlich, rechts und links zwei, mit Folie bezogene, Rollwände, in der Mitte ein kleiner Sessel, mit einer Decke und einige Bücher auf der Bühne, das war es. Aus einem Buch, scheinbar einem Tagebuch, wird Gregor immer wieder vorgelesen. Die Aufführung lebt dabei sehr stark von Wiederholungen, Wiederholungen, die auch Alzheimerkranke immer wieder durchleben, oder zumindest diejenigen, die sie pflegen.
Auch vom Inhalt ist vieles gestrichen worden, man beschränkt sich mehr auf Bilder. Auch hier mag das Deutschlehrerkollegium wieder die Stirn runzeln, sind doch gerade die Texte von Kafka sehr stark und bieten viele Möglichkeiten der Interpretation, doch den fehlenden Text hat das Trio mit starken Bildern ausgeglichen. Beispielsweise kommt in einer Szene ein Spieler in einem schwarzen Morphsuit auf die Bühne, während Gregor einen Monolog hält, der darin endet, dass der hinausfliegen möchte und schon liegt er auf dem Rücken des Morphsuitträgers und scheint zu fliegen. Ein tolles Bild, das in vieler Hinsicht den Kern trifft, denn Alzheimerpatienten fliegen sicherlich oft mit ihren Gedanken aus dem eigentlichen Leben hinaus oder wollen vor der Krankheit wegfliegen. Andererseits ist es auch Gregor nicht möglich aus seiner Lage zu fliehen. So ergeben sich mit der Zeit immer wieder Gleichnisse, die Parallelen zu Kafkas Erzählung aufzeigen, auch wenn sie scheinbar vom Original abweichen. Ebenso eine packende Szenerie, als die Familie von verschiedenen Seiten an Gregors Zimmertüren klopft, dieses Mal aus dem Original entnommen, und man den Atem und die Körper an den Folien sieht. Es hat etwas unheimliches, aber auch beklemmendes und so fühlt sich auch der Zuschauer an einigen Stellen wie Gregor Samsa.
Neben der Schwester, dem Vater und Gregor selbst sind während der Inszenierung keine anderen Charaktere zu sehen, lediglich aus dem Off oder über die Folien werden andere Charaktere abgebildet, beispielsweise der Prokurist, der sich ziemlich am Anfang der Erzählung nach Gregors Wohlbefinden und Verspätung auf der Arbeit erkundigen kommen möchte. Ein Highlight ist auch der Charakterwechsel zwischen Schwester, Gregor und Vater, denn jeder der drei Schauspieler übernimmt einmal eine der genannten Rollen. So steht Gregor einmal an einer Drehwand, die sich anschließend schnell dreht und der dahinterstehende Darsteller stürzt sofort an die Stelle des vorherigen Gregors und führt die Szenerie nahtlos fort. Auch ein Streit zwischen dem Vater und Gregor und eine heruntergeschlagene Brille führen zu einem Wechsel der Charaktere. So altert Gregor auch immer weiter, da die drei die Reihenfolge so gewählt haben, dass erst der jüngste, dann der mittlere und dann der älteste Darsteller Gregor verkörpern, sodass die Krankheit mit zunehmendem Alter immer einnehmender wird.

Allerdings müssen wir zugeben, dass der Zauber der Drehwände an manchen Stellen erloschen ist, da man als Zuschauer schlichtweg das Geschehnis dahinter beobachten konnte. Außerdem spielen die drei auf sehr markanten Stoppersocken, die irgendwie nicht ins Bild zu passen scheinen (besonders, wenn man als Grete noch ein Kleid trägt), doch vielleicht ist dieser störende Effekt so gewollt, wir sind uns nicht sicher.
Und dennoch lebt die Inszenierungen von ihren Darstellern. Es ist erstaunlich, wie Raphael Batzik, Thilo Matschke und Moritz Mittelberg-Kind über knapp 70 Minuten die Spannung des Stücks aufrecht erhalten und den Zuschauer in ihren Bann ziehen. Auf große Effekte wird dabei verzichtet, auch Musik und Lichteinstellungen werden nur begrenzt eingesetzt. Das verleiht dem Ganzen einen besonderen Charme, führt aber auch dazu, dass es einige Minuten dauert, bis man sich in die Inszenierung als Zuschauer eingefunden hat.
Am Ende stirbt Gregor, das ist kein Geheimnis und auch der Gregor dieser Inszenierung stirbt, allerdings an den Folgen seines Alzheimers. Er stirbt allein, denn die Verwandten haben es nicht mehr geschafft ihn weiterzupflegen. Es werden Kerzen aufgestellt, das Licht flackert, ein Herzschlag wird eingespielt, dann ist das Stück schlagartig vorbei. Im Original freut sich die Familie, dass Gregor tot ist und auch hier könnte man meinen, dass es eine Erleichterung sei, dass der Patient endlich verstorben ist. Trotzdem dauert es eine ganze Weile, bis der erste klatscht, es hängt eine seltsame Stimmung in der Luft. Applaus haben sich die drei aber dennoch verdient, denn sie haben an diesem Abend eine tolle Leistung gebracht.
Unser Fazit ist eindeutig: wer Kafkas „Die Verwandlung“ kennt und bereit ist etwas über den Tellerrand hinauszublicken, für den können wir diese Inszenierung empfehlen. Ein Feuerwerk an Effekten sollte man nicht erwarten, oft wird auf das klassische Sprechtheater gesetzt, das aber an vielen Punkten berührt und nachdenklich stimmt. Besonders der Minimalismus in der Umsetzung zeigt, dass Theater nicht immer komplex sein muss, man viel Licht, Musik oder die volle inszenatorische Bandbreite benötigt.
Wer sich über das Theater Essen-Süd und weitere Aufführungstermine informieren möchte, dem können wir die Homepage des Ensembles ans Herz legen. „Die Verwandlung“ wird noch einmal am Wochenende 15./ 16. September aufgeführt.