Beitragsbild: Nadya Lev
Text: Marius Panitz (marius.panitz@theaterwg.de)
Es kann schon von Vorteil sein, wenn die zu porträtierenden Künstler nicht nur ausführlich Zeit mitbringen für ein langes Interview, sondern dabei auch noch eine Museumsausstellung in der Hinterhand haben, die ausführlich in mehreren Räumen einen Überblick gibt über 20 Jahre künstlerischer Vergangenheit.
So geschehen, als wir uns mit half past selber schuld getroffen haben, dem Künstlerduo bestehend aus Ilanit Magarshak-Riegg und Sir ladybug beetle (Frank Römmele), das vermutlich stolz behaupten kann, dem Theater mit seiner Arbeit ein neues Genre geschenkt zu haben, den Bühnencomic.
Anfangs waren Ilanit und Frank Musiker, tourten durch Europa, gaben Konzerte und nahmen Hörspiele auf. Tätigkeiten, die sie jetzt auch noch verfolgen, nun aber als Duo, das sich, wie Ilanit definiert, am ehesten über Bühnencomics darstellt. Diese beinhalten im Prinzip alles: „Da ist Musik drin, Visualität, philosophische Texte.“ Text und Musik waren für die beiden schon immer ein wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit. Das Theater entdeckten sie erst, als sie Niels Ewerbeck, der damalige Leiter des Forum Freies Theater, Düsseldorf (FFT) bei einem Konzert besuchte, ein Hörspiel von ihnen hörte und ihnen dann den Vorschlag machte, dass sie mit seiner Unterstützung doch auch mal ein Theaterstück inszenieren sollten.
Diese Gelegenheit wollten die beiden auch voller Tatendrang nutzen. Nur wussten sie gar nicht so recht, wie man ein Theaterstück auf die Bühne bringt. Doch anstatt sich in Hilflosigkeit zu verirren, haben sie einfach losgelegt und gemacht, was ihnen in den Sinn kam. Und das war genau das Richtige: „Wir wussten anfangs nicht, wie das geht, wir selber waren keine Theatergänger. Wir haben einfach gemacht, was wir uns unter Theater vorgestellt haben. Viele „Bings“ und „Boings“, sehr bunt, viel Musik, sehr übertrieben und sehr plakativ.“

Und diesem Stil – das kann man getrost behaupten, wenn man ihre Arbeit sieht – sind Ilanit und Frank bis heute treu geblieben, denn er definiert sich erst durch sie selbst: „Wir haben festgestellt, dass wir mit dem, was wir auf der Bühne gemacht haben, in keine wirkliche Schublade passen und mussten unsere Arbeit erst selber definieren.“
Insofern muss ich den Leser dieses Textes enttäuschen: Es ist in keiner Sprache der Welt in Worte zu fassen, was half past selber schuld auf der Bühne zeigen. Die Bilder, die sich elegant in den Text integrieren, geben nur einen kurzen Eindruck über die bildgewaltigen und opulenten Szenen, die Ilanit, Frank und ihr Team sich ausdenken. Der Begriff „Bühnencomic“ kann auch wortwörtlich so interpretiert werden. Über ausgeklügeltes Puppenspiel, geniale Mechaniken, bewusst-pointierten Einsatz von Bühnenlicht und Schatten sowie vollkommen verhüllende schwarze Kleidung, die die Puppenspieler während ihrer Arbeit meistens unbemerkt in den Hintergrund rückt, erwecken Half half past selber schuld wirkliche Comicfiguren auf der Bühne zum Leben. Und wie jeder Comicheftzeichner, haben auch sie ihren eigenen Stil, der sehr bunt und expressionistisch wirkt und ihnen damit eine eigene Handschrift, man will fast sagen, Pinselführung auf der Bühne gibt, die unverwechselbar weltweit ihresgleichen sucht.
Bei einer solchen künstlerischen Herangehensweise, die bei eifriger Werkstattarbeit auf der Bühne nahezu alles möglich macht, ist der kreative Prozess sicherlich einer, der besonders bei Vorüberlegungen zu vielen Meinungsverschiedenheiten führt. Nicht aber bei Ilanit und Frank, denn sie beschreiben sich selber als „zweiköpfiger Künstler“. Sie sind stolz darauf, in ihrer Arbeit die „perfekte Demokratie“ ausleben zu können: „Man muss natürlich erstmal die Leute finden, mit denen das geht. Das war wahrscheinlich das Glück in unserer Geschichte. Und dann muss man irgendwann auch einfach den Mut zur Entscheidung haben. Wenn einer von uns das nicht gut findet, kommt es auch nicht ins Stück. Es kommt, beim weiteren Verlauf der Arbeit, natürlich zur Kompromisszeit und zum Ideeverbot. Da müssen wir uns fragen, ob wir bereit sind, gemeinsam hinter der Idee zu stehen.“
Meistens werden Suppen ja heißer gekocht, als sie gegessen werden, daher ist das alles zwischen Ilanit und Frank auch nicht so wild. Die beiden Künstler kennen sich lang genug, dass sie ein ausgefeiltes Gefühl für das gegenseitige ästhetische Empfinden haben. Ilanit erklärt das so: „Das kommt aber auch sehr selten vor, dass der eine nicht mit der Idee des anderen leben kann, dass Frank nicht weiß, was ich von ihm will oder anders herum. Wenn es wirklich zu einer Idee kommt, die der andere nicht gut findet, würde das nicht umgesetzt werden. Wir haben aber einen ähnlichen Geschmack und können uns auch beide voneinander überzeugen. Und wenn ich auf die Knie falle und flehe“, scherzt Ilanit, „klappt es auch manchmal.“

Ideeverbot. Ein toller Begriff, den wir so auch noch nicht gehört haben und der zeigt, wie eifrig die beiden an ihren Projekten arbeiten. „Irgendwann darf man seine Idee nicht mehr umsetzen, weil die Zeit zu knapp ist. Dann herrscht Ideeverbot. Jeder Vorschlag und jede neue Idee werden nur gedacht und nicht ausgesprochen, dass man nicht das Gefühl hat, noch etwas zu modifizieren. Das ist sehr schwer, das ist dann meistens die Jammerphase. Es ist auch zum Teil die Kunst, sich zu entscheiden. Es ist klar, dass es 1.000 Möglichkeiten gibt.“
Manchmal tun diese Entscheidungen auch weh. Besonders, wenn man nach anstrengender Werkstattarbeit bereits Requisiten oder Puppen gebastelt hat, die einfach nicht so auf der Bühne wirken, wie man sich dies vorgestellt hat. Frank erinnert sich: „Manchmal schmeißen wir auch gigantische Requisiten von vier mal zwei Meter Größe, die bereits fertiggestellt sind raus, weil sie auf der Bühne stehen und einfach nichts passiert und das langweilig ist. Dann blutet natürlich das Herz. Aber wenn man später sieht, wie es modifiziert aussieht, weiß man, dass es richtig war.“ Wir halten diese Einstellung, diesen selbstkritischen Perfektionismus für überaus inspirierend und bemerken diesen auch immer wieder gerne in den Arbeiten von half past selber schuld.
Dass die perfekte Demokratie, die zwischen Ilanit und Frank herrscht, nicht immer auf ihr ganzes Team zu übertragen ist, ist vermutlich nur menschlich, aber dennoch legen die beiden Wert darauf, dass sich jeder Künstler, der mit ihnen zusammenarbeitet, in den kreativen Prozess integrieren kann: „Mit Blick auf das größere Team lassen wir auch Freiheiten, aber am Ende muss das mit unseren Vorstellungen übereinstimmen. Innerhalb dieser Parameter können die Teammitglieder auch ihre Ästhetik mit einbauen.“

Was bei den mächtig wirkenden Bühnenarbeiten von half past selber schuld überraschend wirkt, dass es von der Idee zum fertigen Stück nur knapp ein halbes Jahr dauert, immerhin muss alles in Eigenarbeit gebaut, die Texte geschrieben, die Musik komponiert und dann auch noch alles einstudiert werden. Aber so ist das eben, wenn Perfektionisten am Werk sind. Und auch die Einstellung, dass ein Stück ja doch nie so wirklich fertig ist, gehört zum Spirit des Duos. Ilanit träumt: „Mein Traum ist, dass wir eines Tages vor einem Stück stehen und nicht mehr wissen, wie wir es noch verbessern können. Immer, wenn wir es aufführen, fällt uns etwas auf, was wir noch anpassen können, aber es fehlt uns dann einfach die Zeit, es anzupacken.“
Im Jahr 2016 wurden Half half past selber schuld der breiten Privatfernsehn konsumierenden Öffentlichkeit bekannt. Ihre Teilnahme an der RTL-Castingsendung Die Puppenstars war eine ganz neue Erfahrung für Ilanit, Frank und ihr Team, an die sie sich sehr gerne zurückerinnern, schon alleine, weil der Wettbewerb der Sendung sie eigentlich kaum tangierte: „Im Gegensatz zu Germany’s Next Topmodel oder anderen Castingshows waren wir auf keinen Job oder Vertrag aus. Wir waren alle schon Puppenspieler, sodass wir einfach nur Spaß haben konnten, ganz ohne Druck.“ Dass sie zuerst gar nicht wirklich wussten, wo sie da teilnahmen, zeigt, wie sehr für half past selber schuld das Spiel, wie wenig der Castingtrubel im Mittelpunkt stand: „Wir dachten, wir machen einfach mal mit und zeigten im Vorhinein eine 30-sekündige Szene. Die fanden das so toll, dass man uns später sagte, wir sollten uns keine Sorgen machen, wir kämen bestimmt weiter. Erst da wurde uns bewusst, dass es sich um ein Casting handelte.“ Und da war der Ehrgeiz natürlich geweckt. Solide kämpften sich half past selber schuld durch die Vorrunden und landeten letztendlich im Finale, welches sie ebenfalls für sich entscheiden konnten.
Aber auch neben dem Wettbewerb war die Teilnahme an der Sendung für half past selber schuld eine Bereicherung. Frank erinnert sich: „Was toll war, man konnte sich während der Dreharbeiten mit den anderen Puppenspielern zwei Wochen lang austauschen, was auf Festivals nie wirklich geht, da man da immer im Stress ist, man muss aufbauen, spielen, abbauen und die Kollegen auch. Das ist dann sehr frustrierend. Das war bei der Sendung nicht der Fall. Man hatte nur seine Drehtermine und danach konnte man sich mit den anderen Künstlern treffen.“ Auch die Bühne, die das professionelle Fernsehstudio mit sich brachte, war eine ganz andere Erfahrung: „Im Vergleich zu einem Theaterstück hatten wir davor und danach keine Szene, wir konnten uns wirklich voll auf diese eine Szene konzentrieren. Wir hatten auch mehr Hände zur Verfügung, weil im Theater für folgende Szenen neue Requisiten besorgt werden müssen.“

Was aber nicht nur die RTL-Zuschauer zu sehen bekommen, sondern besonders jene, die sich aufmachen zu Theaterauftritten der Gruppe, ist ihr außergewöhnlicher Erzählstil. Dieser ist immer eine ausgewogene Mischung aus Unterhaltung und seriöser Message, die zum Nachdenken anregt. Auch Ilanit und Frank verirren sich manchmal in den Zuschauerraum des Theaters, schauen sich Stücke an und wissen hierbei genau, was sie nicht sehen wollen: „Wir waren natürlich auch schon einmal im Theater. Manchmal kommt es vor, da fühlen wir uns dabei nicht unterhalten und so etwas wollen wir bei unseren Stücken vermeiden.“ Diesen Spirit merkt man ihren Stücken an. Das Künstlerduo sieht sich durchaus als politisch und will sich auch politik- und sozialkritisch in seinen Werken äußern, gerade Ilanit betont, dass sie, die ursprünglich aus Israel kommt, großen Wert auf politische Positionierung legt. Allerdings wirken die Stücke von half past selber schuld, die sich beispielsweise bereits mit Kapitalismuskritik, Nuklearenergie oder Transhumanismus beschäftigten, nie moralinsauer, weil sie eben in diesen bunten, mitreißenden und unterhaltsamen Rahmen gesteckt sind: „Die Kombi ist wichtig. Es soll am Ende des Stückes ein paar Fragen geben, die der Zuschauer sich mitnehmen kann, Fragen, die wir uns auch selber stellen, die wir im Stück auch nicht beantworten, sondern nur durch Szenen stellen und die Unterhaltung ist da ein wichtiger Punkt. Wenn wir die Wahrheit kennen würden, würden wir den moralischen Zeigefinger bestimmt auspacken.“
Wie genial half past selber schuld diese beiden Elemente verbinden können, zeigt die Ausstellung „Von Pelztierkochern und Menschenähnlichen“ über ihre Arbeit und ihre 20-jährige Geschichte, die momentan im Theatermuseum in Düsseldorf gastiert. Hier finden sich nicht nur viele Fotos und Videos der Stücke, auch stellen die Künstler einen Großteil ihrer Requisiten aus.
Jeder Ausstellungsraum hat einen besonderen Charme, alles ist mit viel Liebe zum Detail eingerichtet und wirklich jeder freie Fleck der Museumsfläche, der zur Verfügung steht, erzählt etwas über die Geschichte und die Arbeitsweise der Gruppe. Einen kompletten Querschnitt durch die Ausstellung zu geben, würde den Text sicherlich sprengen und dem Museumsbesuch zu viel vorwegnehmen. Anhand der Darstellung eines Ausstellungsraumes können wir den Tenor der Exhibition aber sicherlich verständlich und durchaus auch bewusst werbewirksam darstellen.
Unsere erste Berührung mit half past selber schuld fand statt im Jahr 2011, als man uns „eine Gruppe“ bewarb, „die irgendwie Bühnencomics macht“. Jung und naiv, wie wir damals als Abiturienten waren, konnten wir uns gar nichts darunter vorstellen. Glücklicherweise waren wir aber auch neugierig und machten uns auf ins FFT und schauten „Barfuß durch Hiroshima“. Das Stück, half past selber schulds Interpretation des 1973 zuerst erschienenen gleichnamigen Comics des japanischen Comiczeichners Keiji Nakazawa, selbst Überlebender des Atombombenabwurfs über Hiroshima durch die Amerikaner am 6. August 1945, hat uns binnen weniger Minuten gepackt. Half past selber schuld erzählen seit der Premiere ihrer Bühnenfassung im Jahr 2006 in für sie charakteristischer, opulenter Bühnencomicmanier die größtenteils autobiografische Geschichte des Autors, wie er den Abwurf der Atombombe erlebt hat. Im Jahr 2011 wurde das Stück aufgrund der Reaktorkatastrophe in Fukushima in Zusammenarbeit mit Greenpeace wieder aufgenommen. Dem Stück „Barfuß durch Hiroshima“ widmen sie in ihrer Ausstellung einen ganzen Raum. Nicht nur sieht man hier ebenfalls die ausgestellten Requisiten und Bühnenbilder, die für Schattenspiele genutzt werden, auch hört man die mal wieder eigens komponierte Musik, düstere Cellotöne, die einen Eindruck von der Melancholie liefern, die das Stück mit sich brachte. Doch trotz des wirklich brisanten und immer noch aktuellen Themas, trotz der bedrückenden Geschichte und des traurigen Ausgangs, bleiben half past selber schuld auch hier ihrem Stil treu: „Die Vorlage war auch für uns harter Tobak, wobei wir auch da versucht haben, Slapstick-Elemente zu verbauen. Komik, die es auch im Comic gibt, haben wir versucht, umzusetzen, beispielsweise, wenn die Kinder heulen.“ Hier fliegen bei dem Protagonisten, wenn er keine Süßkartoffeln zu essen bekommt, riesige Tränen aus den Augen, eine Szene, die, wenn es nicht um Hunger und Krieg ging, eigentlich sehr lustig wäre: „Man lacht zwar, weil das lustig aussieht, wenn da die Wassertropfen fliegen, aber eigentlich will man mitheulen.“

Bei der Erarbeitung des Stoffes waren sich Ilanit und Frank anfangs gar nicht bewusst, was sie damit in Bewegung setzten. Das Werk, das dem Theaterstück zugrunde liegt, ist knapp 2.500 Seiten lang und wurde in Deutschland in vier Bänden veröffentlicht. Auch mit welcher Intensität die Comics in Japan konsumiert wurden und noch immer werden, haben die beiden zuerst gar nicht gewusst: „Als wir die ersten Anfragen an Keiji Nakazawa schickten, war uns nicht klar, dass das Comic in Japan wirklich von allen gelesen wird. Gut, dass wir das nicht gewusst haben, sonst hätten wir uns da vielleicht gar nicht getraut, ihn anzuschreiben.“ Ja, auch den Urheber dieses, wie sich herausstellte, monumentalen Werks, kontaktierten Ilanit und Frank, um sich mit ihm auszutauschen und ihn über seine Meinung zu ihrem anstehenden Projekt zu befragen: „Nakazawa war ein sehr pazifistischer Mensch, der sich auch gegen Atomkraft gestellt hat und besonders in Japan eine absolut große Persönlichkeit war und noch immer ist, was uns am Anfang gar nicht klar war. Wir haben ihm unsere Ideen zugeschickt und er hat uns nach einer Woche bereits geantwortet und uns über die Produktion auch begleitet.“
Die Ausstellung schafft es, die gesamten Gefühle und Gedanken, die wir während der Aufführung 2011 in uns hatten, diese Wut auf Krieg und zugleich die Angst vor Atombomben, aber auch die Sympathie, die wir für den Protagonisten empfanden und die immer wieder mitschwingende Leichtigkeit, mit der man uns diese bedrückende Geschichte nahegebracht hat, wieder aufleben zu lassen. Am liebsten hätten wir noch mehrere Stunden im Museum verbracht.
Die dargestellten Exponate, die immer wieder durch im Loop laufende Videoclips daneben ergänzt werden, zeigen, mit welcher Liebe und Hingabe die Künstler an ihren Requisiten und Kulissen arbeiten. Bezeichnend ist beispielsweise die Puppe des gleich zu Beginn stehenden, knapp zwei Meter großen und fast 30 Kilogramm schweren Kampfroboters „KFK-24“, der in ihrem letzten Stück, „Kafka in Wonderland“ zum Einsatz kommt und der von nur einem Puppenspieler, der dort hineinklettert, gespielt wird. Doch auch die zuerst etwas unscheinbareren Ausstellungsstücke stellen sich als spannende Entdeckungen heraus. So lässt ein in einen Ausstellungsraum ragender lebensgroßer Bullenhintern und ein danebenstehendes Modell die doch tatsächlich für diesen Effekt wirklich komplexe Mechanik des wedelnden Bullenschwanzes verstehen. Wer meint, Puppenspiel sei nur das Ziehen an Marionettenfäden, dem sei der Besuch der Ausstellung besonders ans Herz gelegt. Bei der Beschreibung der Pinocchio Sanchez-Puppe wird deutlich, wie sehr Kunst und Handwerk bei der Arbeit von half past selber schuld verschmelzen: „Er kann die Augen öffnen und schließen, die Augenbrauen nach oben ziehen und wieder herablassen, die Hand bewegen, sprechen, die Nase einziehen. Die Puppe wird von drei Personen gespielt. Einer ist oben und hält eine Hand, ein anderer hält die andere Hand und der dritte hat beide Beine. Für einen anderen Lebensabschnitt des Charakters, später im Stück, haben wir eine andere Pinocchio-Puppe, die dann wiederum andere Funktionen hat.“

Alleinstellungsmerkmal für die ja eigentlich sowieso schon einzigartigen Bühnencomics ist das präzise Timing der Bewegungen der Puppen während der Performance. Wenn ein Charakter in einer Schlägerei einen Hieb verpasst bekommt und ein „Bang“ über dessen Kopf erscheint und sofort wieder verschwindet, weil er danach Sterne sieht, die dann über seinem Kopf funkeln, kann man plump sagen, werden einfach nur zum richtigen Moment die korrekten Schildchen hochgehalten. Aber besonders die Schnelligkeit des Effekts, der meistens nur wenige Sekunden anhält und auf den Punkt korrekt um die Puppe platziert ist, lässt das Spiel zu einem wahren Kunstwerk werden. Ein besonderes Leitmedium für diese präzisen Handgriffe ist die von Ilanit selber komponierte Musik. An ihr, beziehungsweise ihrem Takt und ihren Schlägen orientieren sich die Puppenspieler: „Musik und Bild müssen Hand in Hand gehen. Sonst gibt es auch keine wirkliche Option. Jeder Schritt liegt auf einem Schlag. Das gibt uns auch die Sicherheit beim Spielen und man weiß am Ende auch, wenn man alles getroffen hat, war alles gut und es sieht in den allermeisten Fällen auch gut aus.“ Wenn in den Proben festgestellt wird, dass die Schritte mit der Musik nicht übereinstimmen, ist das kein Problem, dann passt Ilanit alles an: „Die Musik wird bis zur Generalprobe noch immer geschnitten und angepasst. Ich sitze dann am Schreibtisch und rechne die Schritte und Takte aus. Schreibtischprobe eben.“
Inspiration und Wissen sammeln Ilanit und Frank durch ihre Reisen. Die Idee für KFK-24 beispielsweise kam während eines Museumsbesuches: „Wir waren in Los Angeles und haben im Natural History Museum eine riesige Puppe gesehen von einem Dinosaurier, die von einer Person gesteuert wurde. Da haben wir gedacht, wir wollen auch eine riesige Puppe für eine Person.“ Auch durch Kooperationen mit anderen Puppenkünstlern kommen die Figuren zum Leben. Für den bereits erwähnten Bullenschwanz zeichnet sich beispielsweise die amerikanische Puppenspielerin Jessica Scott verantwortlich. Zudem erweitern sie ihren Horizont als Mitglieder der Stan Winston School of Character Arts: „Stan Winston ist eine der Hollywood-Größen, die beispielsweise Jurassic Park gemacht haben. Seine Vision war es, sein Wissen über Special Effects weiterzugeben, da es keine wirkliche Schule gab, in der man das lernen konnte. Die Leute, die nach seinem Tod sein Studio übernommen haben, setzen sich jetzt für seinen Traum ein. Alles aus dem Bereich Special Effects, von Computerprogrammen bis Gusstechniken, alles auf höchstem Niveau, dargestellt von Praktikern. Sie zeigen immer die komplette Produktion und sparen nichts aus. Auch, wenn sie einen Fehler machen, wird das nicht übersprungen, sondern gezeigt, wie man den Fehler ausbessert.“
Man könnte fast sagen, mit ihren Hörbüchern, ihrer Musik, den philosophischen Texten und Theaterstücken sind half past selber schuld die eierlegende Wollmilchsau des Theaters. Sie machen einfach alles. Und getreu dem Motto Rio Reisers, machen half past selber schuld das alles und noch viel mehr. Denn fertig sind sie noch lange nicht. Ilanit verrät, dass sie zukünftig ihre Puppen auch auf Kinoleinwänden erscheinen lassen wollen und wir sehnen der Umsetzung dieser Idee bereits entgegen!

Einen ersten Schritt Richtung Leinwand wagen half past selber schuld bereits nächsten Monat, denn ihm Rahmen ihrer Ausstellung veranstalten sie ebenfalls das Puppenfilmfestival „Celluloid Golem“, das vom 2. bis 4. November im Filmmuseum Düsseldorf stattfinden wird. Wie die Website verrät, werden „[a]n 3 Tagen […] insgesamt 2 Featurefilme, 6 Dokumentarfilme und 21 Kurzfilme von internationalen Puppenspielern und -Filmemachern zu sehen sein. […] Sie umfassen zahlreiche Genres, wie Slapstick, Horror, Gothic, Drama, Komödie, Narrativ, Dokumentation, Experimental, Musikvideo und Schattenspiel.“ Eine Veranstaltung also, deren Besuch zweifelsohne einen großen Mehrwert für kulturelle Impressionen mitbringt, wie bereits der Trailer des Festivals vermuten lässt.
Uns bleibt nur noch zu sagen, dass wir hoffen, in Zukunft noch eine Menge neuer toller Projekte von half past selber schuld sehen und hören zu dürfen. Wir bedanken uns sehr für die Zeit, die Ilanit und Frank für das Interview mitgebracht haben und sind uns sehr sicher, dass half past selber schuld nicht zum letzten Mal im Fokus eines Textes auf unserem Blog stehen wird.
Wenn ihr auch einen coolen Theatermenschen kennt, der hier porträtiert werden sollte, zögert nicht, uns anzuschreiben: kontakt@theaterwg.de
5 Gedanken zu “Oktoberporträt: Viele Bings und Boings, philosophische Texte, bunt und viel Musik – Bühnencomics von half past selber schuld.”