Beitragsbild: Sandra Then
Text: Marius Panitz (marius.panitz@theaterwg.de)
Spielen wir das Shakespeare-Assoziationsspiel: Romeo und Julia. Klaro! Hamlet. Was wäre das Theater ohne ihn? Macbeth. Natürlich! Viel Lärm um nichts. Sehr lustig! Richard III. Was für ein Brutalo! Othello. Absolut! Coriolanus. Coriolanus? Was ist das denn?
Als William Shakespeare 1608 sein Werk The Tragedy of Coriolanus veröffentlichte, kreierte er ein Werk, das von Brillanz und Zeitgemäßheit genauso strotzt, wie die anderen Bühnenwerke, die wir von unserem Lieblingsbarden kennen. Nichtsdestotrotz ist die Tragödie um den arroganten römischen patrizischen Feldherren, der sich gegen sein eigenes Volk wendet, eines seiner weniger gespielten und daher auch unbekannteren Werke.
Vielleicht kommt beim einen oder anderen Cineasten die Erinnerung wieder hoch, wenn wir auf die äußerst ansehnliche Kinofassung mit Ralph Fiennes aus dem Jahr 2011 hinweisen. Aber in unserem Jagdgebiet, auf den deutschen Theaterbühnen, ist dieses Stück eher rar gesät.
Umso dankbarer sind wir dem Düsseldorfer Schauspielhaus und seinem Regisseur Tilmann Köhler, die sich in dieser Spielzeit mit „Coriolan“ diesem theatralen Politthriller angenommen haben. Zur Premiere leider verhindert, schafften wir es in die Vorstellung des vergangenen Samstags und wollen Euch unseren Eindruck nun nach dem vierten einleitenden Absatz und einer kleinen Inhaltsangabe nicht länger vorenthalten.
Im frührepublikanischen Rom regieren die Patrizier, der alte, reiche Adel über die Plebejer, das arme, einfache Volk. Dieses hungert, weil die Patrizier das Korn horten und es nur zu Wucherpreisen verkaufen. Die Wut des Volkes richtet sich vor allem gegen den Patrizier und erfolgreichen Feldherren Caius Martius, der auch selbst kein gutes Haar am armen Volk lässt, das er so sehr hasst und daher auch ständig beleidigt. Bevor ihm aber der Aufstand gefährlich werden kann, wird Martius abgezogen und muss gegen die Volsker, einen der vielen Erzfeinde Roms, ins Feld ziehen. In der Schlacht gegen die Volsker, angeführt von Martius‘ Erzfeind Tullus Aufidius schlägt Martius die Volsker bei der Stadt Corioli und bekommt als Ehrerbietung der Römer daraufhin den Zunamen Coriolanus. Wieder zurück in Rom strebt Coriolanus nun an, sich zum Konsul, dem höchsten Amt der Republik, wählen zu lassen. Hierfür benötigt er allerdings auch die Stimmen der ihm so verhassten Plebejer und zieht los und wirbt um diese. Hierbei hat er aber die Rechnung nicht mit den beiden Volksvertretern, den Volkstribunen Sicinius Velutus und Junius Brutus gemacht, die um ihr Amt fürchten, sollte Coriolanus an die Macht kommen. Deshalb reden sie dem Volk ein, Coriolanus nicht zu wählen, was dazu führt, dass er letztendlich, trotz erfolgreichen Stimmfangs, nicht als Konsul bestätigt wird. Nach einem Wutausbruch und sogar einem tätlichen Angriff gegen einen der Volkstribune wird Coriolanus aus Rom verbannt. In seinem Exil trifft er auf seinen Erzfeind Tullus Aufidius, der bereits wieder ein neues Heer aufgebaut hat und erneut gegen Rom ziehen will. Coriolanus, von Rachegelüsten gesteuert, verbündet sich mit seinem Todfeind und zieht gemeinsam mit ihm gegen Rom. Trotz eines verzweifelten Versuchs seines alten Freunds Menenius Agrippa, weicht Coriolanus nicht von seinem Plan ab, Rom zu zerstören. Erst, als seine Frau Virgilia, seine Mutter Volumnia und sein Sohn sich ihm flehend zu Füßen werfen, sieht er von seinem Plan ab und schließt Frieden mit Rom. Den Volskern gefällt dies natürlich gar nicht, sie sehen in ihrem neulich gewonnenen Verbündeten einen Feigling und Verräter und töten Coriolanus.
Es ist vermutlich nichts Neues, dass man, stößt man ein erstes Mal auf ein Stück von Shakespeare, die Handlung mehrmals lesen und sich dazu bei den ganzen Namen noch ein Beziehungsnetz aufzeichnen muss. Ist die Struktur des Stückes allerdings erst einmal durchblickt, merkt man wieder einmal, welch ein Opus Magnum da vor einem liegt. Der englischsprachige Dramatiker und Lyriker T.S. Eliot beschreibt Coriolanus sogar als Shakespeares größten dramatischen Erfolg. Ob da etwas dran ist? Und was die Düsseldorfer draus gemacht haben? Wir werfen einen Blick aufs Gesehene.

Die Bühne im Düsseldorfer Central weist einen ähnlichen Aufbau auf, wie wir ihn bereits von der Inszenierung von Die Dreigroschenoper desselben Hauses kennen. Wir blicken in einen riesigen leeren Kasten, in dem in der Mitte ein rundes Loch klafft. Zu Beginn des Stückes wird hieraus eine runde Plattform hochgezogen, an deren Unterseite Scheinwerfer angebracht sind, die die Bühne, ist die Plattform erst einmal hochgefahren, kreisrund beleuchten. Durch das nun entstandene Loch treten die Schauspieler das gesamte Stück über auf und ab. Karoly Risz (Bühne) und Christian Schmidt (Licht) haben mit dieser Reduktion ganz tolle Arbeit geleistet, die das Schauspiel sehr treffend ins Zentrum rückt.
Reduktion ist vermutlich auch wichtigste Stichwort für die gesamte Inszenierung, denn was wir sehen, ist alles sehr reduziert. Die Schauspieler tragen allesamt Clownskostüme, die Requisiten passen in das Assoziationsfeld des Clowns und machen den Abend, trotz der eigentlich schwergängigen und ernsten Thematik der immerhin dreieinhalbstündigen Inszenierung, fast zu einer unterhaltsamen Revue. Da ficht man Schwertkämpfe mit Wasserpistolen aus oder haut sich gegenseitig mit einem Quietschehammer auf das Haupt. Generell wird, besonders in der ersten Hälfte, der Figur des Clowns alle Ehre gemacht. Die Texte werden mit großer Gestik und Mimik nach vorn gesprochen, die Schauspieler eignen sich für ihre Rollen clowneske Körperlichkeiten an, watscheln teilweise über die Bühne und schmücken die wundervollen Texte in der Übersetzung von Rainer Iwersen immer wieder durch pointierte Slapstick-Elemente aus. Reduktion auch bei der Darstellung des Krieges gegen die Volsker. Comenius bekämpft nicht wirklich Soldaten, es zerplatzen rote Luftballons, mehr und mehr Mitstreiter gehen zu Boden, der Feldherr Martius muss wirklich kämpfen, um alle Ballons zu zerstechen, hetzt hierfür über die ganze Bühne, die ständigen Knallgeräusche wirken auf das Trommelfell wahrhaftig wie ein Hauch von Krieg.

Die schauspielerische Leistung ist, und das wollen wir hervorheben, für das gesamte Ensemble hoch zu loben! André Kaczmarczyk, mehrfach mit Preisen ausgezeichnet, dessen Rolle des Sandmanns in der gleichnamigen Inszenierung von Robert Wilson uns noch etwas verwirrte, brilliert hier als Coriolanus und nimmt sich die Rolle eines des meistverhassten Shakespeare-Protagonisten wirklich zu Herzen und schafft etwas, was ein Ralph Fiennes im Kinofilm nicht schafft: Coriolanus hasst sein Volk und ist ein unkontrollierbares Nervenbündel, das schnell zu Wutausbrüchen neigt, ein Kotzbrocken, an dem man kein gutes Haar lässt. Dennoch lässt uns Kaczmarczyk durch seine Art zu spielen, sind es auch nur die Details, die Blicke, die Sprache, die Betonungen oder die Schminke um seinen Mund, die einen Mundwinkel nach oben und einen nach unten aufweist, in das so düstere Herz des Coriolanus blicken und gibt uns Ansätze, für diesen Charakter irgendwo auch Verständnis zu empfinden. Glenn Goltz als Feldherr Cominius und Rainer Philippi als Menenius Agrippa geben die engsten Freunde des Coriolanus und lassen uns als Zuschauer ihre Verzweiflung, am Ende den Wahnsinn ihres Freundes kaum mehr ertragen zu können, förmlich spüren. Ein Highlight des Stückes sind auch immer die Auftritte der beiden Volkstribune Sicinius Velutus, gespielt von Florian Lange und Junius Brutus, gespielt von Sebastian Tessenow. Stets fühlen diese beiden Rollen sich überlegen, vertreten sie die Macht des doch so armen Volkes, besonders dann, wenn Coriolanus auf die Stimmen ebendieses Volkes angewiesen ist, bedienen Lange und Tessenow häufig den Hochstatus und geraten damit natürlich häufig mit dem arroganten Coriolanus aneinander, was zu aufregenden Statuswippen führt, was wiederum durch das Clowneske in teils wirklich grandiose, einprägsame Bilder und Situationen mündet. Ganz getreu der Shakespeare-Tradition fühlt sich dieses Männerensemble auch den Frauenrollen verpflichtet, so spielt Markus Danzeisen Volumnia, des Coriolanus‘ Mutter und Thomas Kitsche Virgilia, seine Frau. Obwohl den weiblichen Rollen, auch vom originalen Text nicht sonderlich viel Bühnenzeit eingeräumt wird, bilden Mutter und Frau die Stellschrauben, die die Richtung der Handlung vorgeben, sind sie ja verantwortlich für die kurzfristige Kehrtwende des Coriolanus‘, kurz bevor dieser Rom angreift. Imposant wirft sich Kitsche hier Kaczmarczyk vor die Füße und spielt sich, auch in der Körperlichkeit einer alten Frau, die Seele aus dem Leib und stellt damit Danzeisens Volumnia etwas in den Schatten, was vermutlich dem Willen Shakespeares zu entsprechen scheint, denn einen Großteil des Stückes beachtet Coriolanus seine Frau gar nicht, was diese in eine tiefe Traurigkeit verfallen lässt, visuell verstärkt durch den großen Luftballon, den sie immer über ihrem Haupt schweben lässt und der im Laufe des Stückes die Farbe wechselt und immer dunkler wird. Wie großartig dieses Ensemble aber mit verschiedenen Rollenwechseln umzugehen weiß, bemerken wir erst, wenn Jonas Friedrich Leonhardi als punkiger Tullus Aufidius, Anführer der Volsker und Erzfeind von Coriolanus die Bühne betritt. Wir erwischen uns doch glatt bei dem Gedanken, dass wir vermuteten, Leonhardi hätte die ganze Zeit unter der Bühne auf seinen Auftritt als Aufidius gewartet. Dabei war er, wie die vielen anderen Darsteller auch, ständig als Nebenrolle auf der Bühne. So fordert das Stück, dass immer wieder namenlose Gruppen dargestellt werden, die für das aufrührerische Volk stehen oder Senatoren oder Wachmänner. Nur durch leichte Kostümwechsel und andere Requisiten ändern sich die Rollen. Sogar Kaczmarczyk legt in manchen Sequenzen die Rolle des Coriolanus ab und spielt einen einfachen Bürger. Die Tatsache, dass wir diese Wechsel kaum bemerken und eine Gruppe von acht Schauspielern es schafft, den riesigen Kosmos des antiken Roms auf die Bühne zu zaubern und uns glauben macht, es wären mindestens zwanzig Darsteller beteiligt, zeugt von großem Schauspiel, denn jede Rolle, und ist sie noch so marginal, ist präzise ausgearbeitet und bringt stets etwas Neues mit sich!

Nicht erst seit Heath Ledgers beispielloser Darstellung des Jokers in Christopher Nolans The Dark Knight aus dem Jahr 2008 haben Clowns etwas Ambivalentes. Sie sind der Spaßmacher, stehen für Witz und Lustigkeit und schaffen es, ohne Worte, das Publikum zum Lachen zu bringen. Doch lassen sich Clowns nie hinter die Maske blicken. Wer ist der Mensch hinter dem breiten Lachen? Ist er genauso lustig? Genauso glücklich? Was hat sich Stephen King gedacht, als seine brillante Schreibe uns Pennywise servierte? Steckt hinter der Maske also Traurigkeit? Wut? Anarchie, Depression oder gar Mordlust?
Wie klug dann die Entscheidung, die Rollen aus Coriolanus als Clowns auftreten zu lassen! So wie der Theaterzuschauer vermochte auch der Bürger des damaligen Roms, nie einzuschätzen, was der Politiker, der da auf Stimmfang geht, wirklich im Schilde führt und plant, wenn er erst einmal gewählt ist. Und bei genauerer Reflektion ist dies heute nicht anders. Kurioserweise sind „die da oben“ immer sehr bürgernah, bauen Stände auf dem Marktplatz auf, verschenken Bonbons, Kugelschreiber, Luftballons und versprechen uns das Blaue vom Himmel. Wenn sie dann aber gewählt sind, im Parlament sitzen und ihre Diäten kassieren, scheint das eine oder andere Wahlversprechen, und sei es nur im Sinne eines Koalitionsvertrags, vielleicht doch eher Ballast als politisches Programm. Können wir also auch heute nicht hinter dieses Lächeln blicken, das uns gerade auch wieder, im Zuge des Europawahlkampfs, von allen Laternenmasten entgegenscheint?

1608 stellte William Shakespeare mit Coriolanus wichtige politische Fragen, die auch heute noch topaktuell sind: Wie soll Macht im Volk verteilt werden? Wie wird Demokratie richtig angewandt, wie falsch? Sind (gewaltsame) Demonstrationen noch eine legitime Form des demokratischen Protests? Und wie sehr sind Politiker dem verpflichtet, was sie im Wahlkampf versprechen?
Die Liste dieser Fragen geht ins Unendliche und sicherlich haben wir auch noch nicht alles gesehen und verstanden, was uns Shakespeare, Köhler und sein Männerensemble mitgeben wollten. Dennoch haben wir die Essenz durchblickt, die Coriolanus uns mitgeben will: Wir wollen kritische Wähler sein, Parteiprogramme lesen und nicht oberflächlichen Meinungen oder Angst oder Hetze folgen. Wir wollen differenzieren und uns bewusst werden, wie viel Macht wir, das gemeine Volk, mit diesen Kreuzen, die wir auf Wahlbögen setzen, wirklich innehaben. Und wir wollen uns daran erinnern, was passieren kann, wenn diese Macht übertragen wird an den Falschen, der die Demokratie und das Bewusstsein über die Herrschaft des Volkes egoistisch mit Füßen tritt und bespuckt. Die Geschichte gibt uns zahlreiche Beispiele, in denen Demokratie angegriffen und gar zerstört wurde. Leider ist die Geschichte des Coriolanus da bei weitem nicht das aktuellste Beispiel. Aber dennoch nützt sie, uns daran zu erinnern, was es zu verteidigen gilt!

Wer sich vor dreieinhalb Stunden Theater, einem jambischen Fünfheber und vor allem vor Clowns nicht fürchtet, dem sei „Coriolan“ am Düsseldorfer Schauspielhaus durchaus ans Herz gelegt. Alleine schon bei der Seltenheit, mit der Coriolanus auf Spielplänen steht, ist diese Inszenierung zu empfehlen. Dass sie dabei dann auch noch so ansehnlich ist, ist lässt alle Ausreden in Schall und Rauch aufgehen. Also: Auf nach Düsseldorf! Wer die Inszenierung sehen will, findet auf der Website des Theaters alles weiteren Infos.