Beitragsbild: Björn Hickmann/Stage Picture
Text: Marius Panitz (marius.panitz@theaterwg.de)
Ein letztes Mal für diese Spielzeit lud das Rheinische Landestheater Neuss am vergangenen Freitag zur Premiere. Eine Premiere, die ein wenig überschattet war von Wehmut und zwar auf beiden Seiten, auf der Bühne und im Zuschauerraum. Nie zuvor erlebten wir, wie passend ein Stück und sein Thema mit der aktuellen Situation des Theaters in Symbiose treten.
Stellt euch folgendes Szenario vor: Als Kind hatte jeder einen Lieblingsplatz. Der Garten, in dem ihr immer mit Opa Fußball gespielt habt. Der Wald, in dem ihr mit euren Eltern Verstecken gespielt habt. Die Parkbank, auf der ihr euren ersten Kuss hattet. Ein Ort, so banal er auch sein mag, wird dann zu einem Lieblingsort, wenn wir ihn mit wohligen Erinnerungen verbinden. Habt ihr diesen Ort vor Augen? Erinnert euch! Wie sieht der Ort aus? Wie fühlt er sich an? Wie riecht er? Es entwickelt sich eine Wärme, ein Wohlsein in euch.
Und nun kommt ein fieser Geschäftsmann, nimmt euch diesen Ort weg, lässt Bagger und Planierraupen darüber fahren, macht alles dem Erdboden gleich und baut darauf ein Parkhaus.
Wie fühlt sich das an? Das muss wehtun. Ein Schmerz, der sicher nicht im Ansatz so groß ist wie der von Ljubow Andrejewna Ranjewskaja aus Anton Tschechows Komödie Der Kirschgarten, die das RLT in seiner Fassung des Regisseurs Moritz Peters nun präsentierte.

Andrejewna, zusammen mit ihrem Bruder Leonid Adrejewitsch Gajew, Vertreter des alten russischen Landadels und Besitzer eines hochverschuldeten Landguts mit Herrenhaus, reiste nach dem Tod ihres Mannes und ihres jungen Sohnes für fünf Jahre nach Paris und kommt nun wieder zurück nach Russland. Hier erfährt sie vom Kaufmann Jermolaj Alexejewitsch Lopachin, Sohn eines Bauern, der selbst damals als Leibeigener der Familie auf dem Landgut arbeitete, dass ihre finanzielle Situation sich bei weitem nicht gebessert hat. Lopachin empfiehlt die Rodung des Kirschgartens, der das Landhaus umgibt und dann die Verpachtung des Geländes, sodass die Bürger der nahegelegenen Stadt sich dort Sommerhäuser bauen können. In ihrer den alten Adel hochhaltenden Arroganz, aber auch der Erinnerungen an den Kirschgarten wegen weigern sich Andrejewna und Gajew und blenden die Situation aus, Andrejewna geht weiterhin verschwenderisch mit ihrem Geld um und ignoriert dabei den anstehenden Versteigerungstermin. Während einer Feier, die Andrejewna für alle Anwenden gibt, kommen Gajew und Lopachin zurück von der Versteigerung. Lopachin verkündet, dass er das Anwesen ersteigert hat und jetzt seinen anfänglich Andrejewna vorgeschlagenen Plan umsetzen will, was zur Konsequenz hat, dass die alten Besitzer ausziehen müssen und sich am Ende voller Wehmut von ihrem alten Herrenhaus, dem Kirschgarten und damit auch von ihrem bisherigen Leben verabschieden müssen.
Tschechow hat für sein letztes Stück, das er kurz vor seinem Tod 1903 schrieb, weitaus mehr Charaktere etabliert, die, das sollte man wissen, je nach Übersetzung aus dem Russischen und Kyrillischen im Deutschen anders geschrieben werden. Dies erforderte, nicht nur wegen der russischen Doppel- und Dreifachnamen, bereits bei der Lektüre ein ständiges Rückblättern auf die Dramatis Personae des Stückes. Auch am RLT ist Der Kirschgarten mit zwölf Schauspielern ein großes Ensemblestück: Neben den bereits aufgeführten Hauptcharakteren Andrejewna (Linda Riebau), Warja (Philipp Alfons Heitmann) und Lopachin (Stefan Schleue), treten noch hinzu Andrejewnas Tochter Anja (Anna Lisa Grebe) und ihre Adoptivtochter Warja (Kathrin Berg), der ewige Student und Lehrer des jung verstorbenen Sohnes der Andrejewna, Trofimov (Peter Waros), der Kontorist Epichodow (Christoph Bahr), ein weiterer Gutsbesitzer, Pischtschick (Juliane Pempelfort), die Gouvernante Charlotta (Hergard Engert), das Zimmermädchen Dunjascha (Johanna Freyja Iacono-Sembritzki), der junge Diener Jascha (Hubertus Brandt) und der alte Diener Firs (Rainer Scharenberg).

Wir entschuldigen uns bereits jetzt, dass wir bei dieser massigen Anzahl an Charakteren leider nicht bei jedem auf das Schauspiel eingehen können, daher behandeln wir die Inszenierung auch in der Rezension als Ensemblestück und betrachten, ob es in der gesamten Darstellung Ausreißer gibt, die einer genaueren Besprechung bedürfen.
Bei anfänglicher Betrachtung können wir nämlich sagen, dass wir diese Ausreißer gar nicht wirklich feststellen konnten. Der Untertitel des Stückes lautet Komödie in vier Akten, die der französische Schauspieler und Regisseur Jean-Louis Barrault ganz treffend wie folgt zusammenfasst: „Erster Akt: Der Kirschgarten muss vielleicht verkauft werden. Zweiter Akt: Der Kirschgarten wird verkauft werden. Dritter Akt: Der Kirschgarten ist verkauft. Vierter Akt: Der Kirschgarten ist verkauft worden. Der Rest: Das Leben.“
Diese vier Akte hat man sich nicht nur von der Dynamik des Schauspiels zu Herzen genommen. Zuerst einmal brilliert hier Christina Hillinger, die für die Kostüme, aber auch für das Bühnenbild zuständig war und sich hierfür einen sehr pfiffigen Kniff ausgedacht hat. Sie stellt eine aus einzelnen Elementen bestehende Wand, die man über die Bühne schieben kann auf. Anfänglich sind die Elemente verbunden, später werden sie von Bühnentechnikern, die ins Spiel mit integriert werden und sowas wie Bauarbeiter spielen, auseinander gebaut und symbolisieren dann den Kirschgarten, der abgeholzt wird. Dabei hat jeder der vier Akte wirklich sein eigenes Bühnenbild, das neben der Wand, lediglich durch Scheinwerfer auf rollbaren Stativen und auf der Bühnenfläche ausgelegte LED-Röhren ergänzt wird. Die Entwicklung der beschriebenen Wand spiegelt auch die Dynamik des Settings wieder. Steht sie im ersten Akt noch ganz vorn und reduziert die Spielfläche der Schauspieler damit lediglich auf die Rampe und bietet hier eine Projektionsfläche für philosophische Rüdiger Safranski-Zitate, ist sie im zweiten Akt diagonal aufgebaut, bietet mehr Raum und wird ebenfalls unter Zuhilfenahme einer Kirschblüten-Projektion zur Gartenkulisse. Im dritten Akt steht sie, umgedreht ganz hinten und im vierten wird sie auseinandergebaut und ihre Elemente am Ende gänzlich von der Bühne geschoben, bis wirklich nur noch der nackte Bühnenbau ohne jedwede Kulisse zu sehen ist. Parallel zur Relevanz des russischen Adels, den der Kirschgarten und für uns in Neuss auch diese Wand symbolisiert, verschwindet diese also im Laufe des Stückes sukzessive.

Doch was hat nun das RLT gemacht, um aus Tschechows Spätwerk seine eigene Interpretation zu machen? Wir vermuten, es hat experimentiert. Und diese Experimente sind zum Teil geglückt, fallen aber zum Teil auch in die „Da müssen wir noch mal drüber nachdenken“-Kategorie.
Es ist bei weitem ein sehr konsequenter Ansatz, das Bühnenbild, das von Tschechow zu Beginn jedes Aktes quasi bis tief in den Horizont beschrieben wird, wirklich bis ins Abstrakte zu reduzieren. Umso mehr hätten wir erwartet, dass dies auch mit den Charakteren des Stückes so gehandhabt worden wäre. Diese lässt das Neusser Ensemble allerdings in ihrer Fülle und Gänze aufblühen und gibt den Schauspielern die Möglichkeit, Ihren Rollen das Komische, das die Vorlage (wir erinnern uns, Tschechow selbst nennt Der Kirschgarten, das sich doch eher anfühlt, wie eine Tragödie, Komödie) nicht wirklich überbringt, einzuverleiben. Dies geht von direkt lustigen Momenten wie quietschenden Schuhen von Bahrs Pechvogel Epichodow über Heitmanns quirlige Interpretation bonbonsüchtigen und Oden an Bücherregale haltenden Onkels Gajew bis hin zu eben jenen Momenten, die Lopachin erlebt, wenn er, der sein Geld nicht vererbt bekommen sondern hart erarbeitet hat, den bankrotten Gutsbesitzern mitteilt, dass er ihr Haus samt Garten ersteigert hat. Stefan Schleue fackelt hier ein Feuerwerk der Euphorie ab. Alle Energie und Stärke, die Tschechow mit dem Charakter des Lopachin, für den sein eigener Vater als Inspiration galt, und zugleich all die Verachtung, die er für den alten, obsoleten russischen Adel fühlte, drückt Schleue in seiner Darstellung des Lopachin aus, übernimmt am Ende diese Scheißegaleinstellung, die ihm sein selbst erarbeitetes Geld erlaubt in die Rolle und gibt dem Neusser Lopachin somit ein ganz großes Finale!
Was uns Regisseur Peters mit einer Charlotta, die vermutlich für anstehende Marina Abramović-Wettbewerbe probte, sagen wollte, ist uns ein Rätsel. The artist was definitely present. But why? Im Original führt Charlotta Zaubertricks auf. Diese hätten sicherlich nicht einen so bühnenfüllenden Effekt wie eine Hergard Engert, die mit vollem Anlauf gegen eine Wand läuft, eine Zwiebel isst oder dadaistische Lautgedichte aufsagt (chapeau hierfür, wirklich toll gesprochen!), doch waren wir ob der ausbleibenden Zaubertricks doch ein wenig enttäuscht. Durch die Fokussierung auf die Performance verliert die Rolle der Charlotta doch irgendwie an Substanz. Klar, sie ist ein Außenseiter, sie ist Waise, kennt ihre Eltern und ihre Herkunft nicht und ja, sie ist ein bisschen auch ein Freak. Da Abramović’sche Performance aber nur dann funktioniert, wenn es wirklich Performance ist, und das ist es nicht, wenn Engert voll auf die Wand zuläuft und vor dem Einschlag schützend die Hand vor den Kopf hält, wirkt dies auf uns weniger wie eine Hommage und eher wie der Versuch einer bildgewaltigen Aufwertung der eigentlich marginalen Rolle der Charlotta.

Einen wirklich großartigen Moment, vermutlich den berührendsten des ganzen Abends, liefert der Schluss, der nun wirklich das Ende einläutet. Mit Der Kirschgarten, der letzten Premiere für diese Spielzeit, endet nun auch die Intendanz von Reinar Ortmann. Mit ihm verlassen auch einige Schauspieler das Ensemble und mit der neuen Intendantin Caroline Stolz wird in der kommenden Spielzeit sicherlich auch ein ganz frischer Wind über die Bühnen des RLT wehen.
In diesem Wissen musste sicherlich der eine oder andere RLT-Fan am Schluss des Stückes ein kleines Tränchen verdrücken. Tschechow lässt alle Gutsbesitzer ausziehen und auch Lopachin hat Termine und verlässt das Gut. Zurück bleibt der alte Diener Firs. Man hat ihn einfach vergessen.
Und auch Rainer Scharenbergs Firs wird vergessen. Als das letzte Element der oben erwähnten Bühnenwand weggeschoben wird, sitzt er dort, am hintersten Bühnenrand, zusammengekauert. Ein wenig störend finden wir, dass Linda Riebau als Andrejewna in diesem Moment noch auf der Bühne steht und beim Abgehen Firs noch voll und ganz im peripheren Blickwinkel sieht und somit die Illusion dessen, dass er hier gar nicht wirklich hätte vergessen werden können, zunichte macht. Ein Regiepatzer? Eine Überschneidung zweier narrativ-stilistischer Ebenen, für die wir zu doof sind? Wir wissen es nicht. Schöner hätten wir es gefunden, wäre Firs erst bei einer vollends leeren Bühne erschienen.

Ist aber die Bühne dann erst einmal leer, beginnt Firs mit seinem Monolog. Läuft ein wenig verwirrt über die nackte Bühne, spricht weise Worte, sagt, das Leben sei vorbeigegangen, als ob es gar nicht dagewesen wäre. Und dann, ganz zum Schluss, das ist bei Tschechow nicht vorgesehen, macht Firs das Licht aus. Black. Das war’s. Alle sind weg. Da swidánja!
Was haben wir also gesehen? Eigentlich eine ziemlich originalgetreue Rezitation des Texts in reduziertem Bühnenbild, gewürzt mit Performance-Elementen. Auch, wenn aus unserer Sicht der Haupttenor des Stückes für die Neusser der Abschied ist, fragen wir uns, ob da nicht noch mehr hätte gehen können? Zwar versucht das Stück auch, zu aktuellen politischen Themen Stellung zu beziehen, lässt Schauspieler aus dem Naturalismus des Stückes, vorn an die Rampe an ein Mikrophon treten und sie etwas Kapitalismuskritisches oder über die Wichtigkeit des Umweltschutzes sagen. Doch fragen wir uns, was es mit dieser ganz klaren Trennung von Tschechows Stück und diesen Kommentierungen, die im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Rahmen fallen (die Schauspieler übertreten einen weißen Rahmen, der um die ganze Bühne geht, um an die Mikrophone zu gelangen), auf sich hat. Hätte man diese nicht kreativer in das Geschehen einflechten können? Sie wirken so unsauber angeklebt und stören manchmal den Genuss der Tschechow’schen Sprache.
Unterm Strich haben wir also noch so einige Fragen, bei denen wir nicht wissen, ob wir die Antwort bekämen, wenn wir die Inszenierung noch einmal besuchen würden. Aber vielleicht könnt ihr uns ja helfen und uns eure Eindrücke schildern. Der Kirschgarten wird noch bis Ende Juni 2019 in Neuss gespielt. Infos über das Stück und auch Ticketreservierungen wie immer auf der Website des Theaters.

Auch wir sagen natürlich „Lebewohl!“ und bedanken uns für die vielen tollen Stücke, die wir im RLT, das wir gerne „unser Wohnzimmer“ nennen, sehen und besprechen durften. Wir haben viel gelacht, wurden häufig zum Nachdenken angeregt und mussten hin und wieder vielleicht auch ein bisschen weinen, können also für diese Spielzeit definitiv bescheinigen: Es war eine gute! Wir wünschen Reinar Ortmann und allen Künstlern, die mit ihm das Theater verlassen alles Gute für die Zukunft und hoffen, sie vielleicht bald in anderen kreativen Projekten wieder entdecken zu dürfen! Bis dahin: Vielen Dank für die tollen Bilder!