Viele Eindrücke, nichts zu meckern: Pardon wird nicht gegeben am Schauspiel Köln

Beitragsbild: Krafft Angerer
Text: Marius Panitz (marius.panitz@theaterwg.de)

Alfred Döblin gehört zu ebenjenen Autoren, bei denen man verwundert die Stirn runzelt, wenn man erfährt, dass er mehr geschrieben hat als einen Roman. Dieser Roman, Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf ist eines der bekanntesten Werke der deutschen Moderne. Obwohl der Autor, der Kaiserreich, den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik, den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg sowie die Gründung der Bundesrepublik Deutschland miterlebt hat, mit Werken wie Die Ermordung einer Butterblume oder Wallenstein auch noch andere lesenswerte Texte geschrieben hat, wird er zumeist auf seinen erfolgreichsten Roman Berlin Alexanderplatz reduziert. Nun hat das Schauspiel Köln auch einmal über den Döblin’schen Tellerrand geschaut und mit seiner Bühnenadaption von Döblins Roman Pardon wird nicht gegeben, im Jahr 1935 entstanden, eine ganz wundervolle Theaterversion kredenzt.

In den drei Kapiteln „Armut“, „Konjunktur“ und „Krise“ beschreibt Döblin in Pardon wird nicht gegeben die Geschichte einer Mutter und ihrer drei Kinder Karl, Erich und Marie, die nach dem Tod des Vaters schwer verschuldet in eine Großstadt, vermutlich Berlin, ziehen. Karl, mit 16 Jahren der Älteste, muss schnell die Versorgerrolle übernehmen, die Mutter wird psychisch immer labiler, unternimmt sogar einen Selbstmordversuch, der im letzten Moment unterbunden werden kann. Karl kommt in der Möbelfabrik seines Onkels unter und soll dort Karriere machen. Zugleich liebäugelt er aber auch mit den sozialrevolutionären Gedanken von Paul, einem Anarchisten, den er in den Markthallen der Stadt trifft. Nur dadurch, dass sie Karl einsperrt, gelingt es der Mutter, zu verhindern, dass ihr Sohn sich Paul und seinen Sozialrevolutionären anschließt. Paul taucht hierauf unter. Karl arbeitet weiter in der Fabrik des Onkels und steigt auf bis zum Prokuristen, Bruder Erich beginnt eine Lehre als Apotheker, was der Familie Erfolg und Geld einbringt, das sie aus der Armut befreit. Die kleine Schwester Marie erlebt dies nicht mehr, sie stirbt noch im Kindesalter. Neben dem finanziellen Erfolg trifft Karl auch Julie, mit der er bald Kinder hat und die er heiratet. Als allerdings die Geschäfte in der Fabrik nicht mehr so gut laufen, kriselt auch die Ehe, Julie beginnt eine Affäre mit José, Karl selber bevorzugt lange Abende in Kneipen und Bordellen. Nun tritt auch Paul wieder in Karls Leben und hält ihm vor, zu ebenjenem Industriekapitalisten geworden zu sein, wie sie sie früher zu bekämpfen planten. Bevor Karl allerdings diesen Einschnitt in sein Leben wirklich verarbeiten kann, wird er bei Auseinandersetzungen auf offener Straße erschossen.

Wir nehmen gleich einmal die Spannung vorweg: Das Schauspiel Köln hat mit seinem äußerst sympathischen Regisseur Rafael Sanchez am vergangenen Freitag mit einem Stück Premiere gefeiert, bei dem wir auch beim noch so pingeligen Gucken und Suchen und Grübeln nichts gefunden haben, bei dem wir auch nur in irgendeiner Weise meckern können. Also stellt euch ein auf eine gebloggte Lobeshymne auf eine Bühnenadaption von Pardon wird nicht gegeben, die wir bereits hier jedem Literatur-, Theater-, Neue Sachlichkeits- und Döblin-Fan sowieso nur wärmstens empfehlen können.

Bei betreten des Depot 1 des Schauspiel Köln fällt direkt das Chaos auf, das Thomas Dreißigacker auf die Bühne gelassen hat. Vorn und hinten flankiert von zwei Erhöhungen, befindet sich in der Mitte eine auf den ersten Blick unordentlich zugestellte Bühnenfläche der eigens hierfür errichteten Guckkastenbühne. Wir sehen einen Kofferanhänger mit verglasten Wänden, darin Sitzmöglichkeiten, wir sehen eine Bierzeltgarnitur, ein blaues Ölfass, Stühle, viele Kabel, zwei Koffertrolleys, auf denen sich jeweils ein Beamer befindet, der jeweils eine der beiden Seitenwände bestrahlt, die wiederum jeweils mit zwei zu den Zuschauern gerichteten Flachbildfernsehern ausgestattet sind, hinten rechts in der Ecke steht noch ein Klavier. Der obere Teil der hinteren Wand verbirgt zudem noch eine Fensterfront, durch die bei geöffneten Vorhängen in eine kleine Nebenbühne hinein zu sehen ist, die als Wohnung des Onkels dient.  Ordnungsfetischisten werden an diesem Abend möglicherweise keine Freude haben. Warum diese Lösung allerdings eine sehr pfiffige und ansehnliche ist, verdeutlichen wir später.

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Foto: Krafft Angerer; Lola Klamroth, Simon Kirsch, Justus Maier, Martin Reinke

Bei der Kölner Inszenierung von Pardon wird nicht gegeben prallen so viele tolle Sachen aufeinander, dass diese sich teilweise schon selbst im Wege zu stehen scheinen. Zuerst einmal wollen wir die Arbeit der Schauspieler würdigen: Nikolaus Benda (Paul, José), Simon Kirsch (Karl), Lola Klamroth (Mutter, Ilse), Justus Maier (Erich), Martin Reinke (Erzähler, Onkel, Anwalt), Ines Marie Westernströer sowie Ida Marie Fayl (Marie) bilden eine Einheit, die sich weder auf den Füßen steht noch Solodiven hervorbringt. Obwohl Kirschs machohafter Karl, dem Ursprungswerk geschuldet, zumeist im Vordergrund steht, bekommen auch andere Charaktere auch ihren Fokus. Einheitlich und energetisch zeigen die Schauspieler, wie man aus einem Roman ein Theaterstück macht. Zwar birgt die Inszenierung konsequenterweise eine massive Textlast, aber irgendwie stört uns dies erstaunlicherweise nicht ein einziges Mal.

Liebling des Abends, sofern man das sagen darf, war Martin Reinke, der eigentlich ja nur marginale Rollen spielte, aber dies mit einer Hingabe, die dem Abend einen gewissen Charme verlieh. Anfangs sitzt er mit Pickelhaube im Glaskasten, mimt einen zermürbten Kaiser Wilhelm II., murmelt Parts der Hunnenrede, die das historische Original im Jahr 1900 vor Soldaten gehalten hat, die nach China geschickt wurden, um den Boxeraufstand blutig niederzuschlagen. Schlagworte wie „Kommt Ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen!“ oder „Gefangene werden nicht gemacht!“ stehen stellvertretend für den blutigen Nationalismus, den der letzte deutsche Kaiser vertrat. Auch der Titel des inszenierten Romans geht auf eine Passage aus dieser Rede hervor.  Reinke unterbricht sich dabei selber, wird mal lauter, nuschelt dann wieder, es wirkt fast, als wollte Reinkes Wilhelm nicht so recht herausrücken mit der Rede, die nichts anderes war als die Ankündigung eines blutigen Rachefeldzugs. Später dann, als Onkel und als Erzähler, aber auch als Anwalt streut Reinke immer wieder durch seine Sprache, aber auch durch pointierten Dinner for One-Slapstick und überhaupt durch sein musikalisches Talent an Klavier und Geige, eine Prise meist erheiternde Abwechslung in das Stück, das ja eigentlich eine gar nicht so lustige Grundlage hat. Die berühmte Stolperfalle des Geschlechtsverkehrs auf der Bühne umgeht Sanchez sehr gewitzt, lässt er Simon Kirsch und Lola Klamroth als Prostituierte Ilse sich beim gespielten Liebesakt durch eine Glasscheibe gegenseitig ablecken. Safer Sex in seiner extremsten Ausprägung. Uns gefällt’s!

Die chaotisch anmutende Bühne ist sicherlich nicht nur eine Metapher auf das Chaos der Zwanzigerjahre. Sie bietet den Schauspielern zudem die Möglichkeit, die Geschichte schnell voranzutreiben. Es bedarf keiner nervigen Umbauten oder Szeneriewechsel, denn alles, was für den Fortgang des Spiels benötigt wird, steht in reduzierter Form ja bereits irgendwo herum. Einen unbeabsichtigten Vorteil des Chaos bringt die Bühne am Premierenabend schließlich auch noch: Im Laufe des Stückes fällt Kirschs Mikrofon aus. Souverän wartet ein Techniker einen Moment ab, in dem die anderen Schauspieler ihre Einsätze haben, Kirsch nur an einem Tisch sitzt, tritt im selben Grundkostüm wie die Schauspieler, einem olivfarbenen Overall, auf die Bühne und ersetzt das defekte Mikrofon, sodass Kirsch danach weiterspielen kann und niemanden hat es gestört. Man könnte fast davon ausgehen, es gehörte irgendwie dazu, denn durchweg geisterten die Schauspieler über die Bühne und bauten irgendwo etwas Neues auf oder passten etwas Altes an. Wieso dann auch mal nicht ein Tontechniker? Auch wir sind ganz begeistert von dieser Souveränität. Das ist Theater!

Seitdem wir die Kölner Inszenierung von Lars von Triers Minimalismus-Klassiker Dogville im Depot 1 gesehen haben, ist das Schauspiel Köln für uns der Weltmeister, wenn es zum Einsatz einer Live-Kamera während des Stückes kommt. Auch bei Pardon wird nicht gegeben setzt Regisseur Sanchez auf diese hinzukommende Perspektive. Er schickt Medienprofi Nazgol Emami mit auf die Bühne und stattete sie mit einer Kamera aus, deren Bilder direkt auf die Wände des Guckkastens geworfen werden. Nicht nur schafft es Emami als Kamerafrau, sich wie ein Geist über die Bühne zu bewegen, man bemerkt sie wirklich gar nicht, sie stört das Spiel daher in keiner Weise, auch beherrscht sie ihre Kamera wie keine Zweite. Die Shots, die sie während der Dialoge von den Schauspielern macht, sind wortwörtlich filmreif. Close-Ups und Medium-Shots sowie Nähe und Distanz mit Tiefen(un)schärfe in der Spielsituation unterstützen die Wahrnehmung der Gefühle, die die Schauspieler gekonnt auf die Bühne bringen, sei es die Verzweiflung der Armut, die Freude über die Konjunktur oder die Depression der Krise. Und in diesem Zusammenhang auch ein weiteres „Chapeau“ an die Schauspieler, die es mit ihrem Spiel schaffen, das Publikum von Emami abzulenken und zudem die beiden unvereinbaren Elemente Film und Theater doch irgendwie eins werden zu lassen. Theaterschauspielern, die beim Film einsteigen, sieht man ja doch sehr schnell an, dass sie auf der Bühne für die großen Gesten und Mimiken stehen. Benda, Kirsch und Co. allerdings verstehen ihr Handwerk, bieten dem Zuschauer neben großem Theater ebenso präzises und pointiertes Kameraschauspiel, sodass nie etwas künstlich oder überzogen wirkt.

Pardon wird nicht gegeben
Foto: Krafft Angerer; Simon Kirsch (Karl), Ines Marie Westernströer (Julie), Nikolaus Benda (José)

Generell ist Sanchez‘ Version von Pardon wird nicht gegeben wirklich randvoll gepackt mit verschiedenen Erzählebenen. Neben der Bühne selber, der Nebenbühne, die wir durch das Fenster sehen und den erwähnten Live-Videos, überträgt eine weitere Kamera eine Art Tunnel von hinter der Bühne, der als Geheimversteck für Paul dient. Die eingangs aufgeführten Beamer projizieren zumeist historische Filmaufnahmen, die sich mit der Zeit des Romansettings decken, mal sieht man Arbeiter auf der Suche nach Arbeit, mal rauchende Industrieschlöte, mal marschierende Soldaten. Die Videos vermitteln den Eindruck, dass die Geschichte der Familie hier auf der Bühne nur eine von vielen ist, Einzelschicksale, die sich zur Erzählzeit sicherlich hinter nahezu jeder Haustür abspielen. Häufig treten die Schauspieler auch auf den vorderen Laufsteg und führen die Erzählung fort. Allerdings in der ersten Person, sie erzählen hier sehr sympathisch an das Publikum gewandt in der Ich-Form von der Progression ihrer Rollen und marginalisieren damit zumeist Martin Reinkes auktorialen Erzähler. Hiervon sieht man dann an den Wänden rechts und links zudem noch große Schatten, denn in den Rampen-Steg sind Scheinwerfer eingebaut, die die Erzählung zudem noch zum Schattenspiel werden lassen. Schade, dass die Schatten manchmal so riesig sind, dass ihre Köpfe dem oberen Ende der Bühnenwände zum Opfer fallen. Auch das weitere Lichtkonzept von Jürgen Kapitein deckt sich mit der Erzählung, sieht man wirkliche Farben doch eigentlich nur im zweiten Kapitel „Konjunktur“ die erheiterte Stimmung unterstützen. Der restliche, eher melancholische Teil des Stückes ist daher auch sehr düster und passend eintönig beleuchtet.

Gerade diese Vielzahl an visuellen Eindrücken meinten wir eingangs, als wir davon sprachen, dass sich vielleicht viele tolle Sachen im Wege zu stehen scheinen. Manchmal weiß man einfach gar nicht, wohin mal schauen soll, beobachtet einen mitreißenden Dialog der Schauspieler auf der Bühne und stellt überrascht fest, dass dieser auch auf die hintere Wand als Film übertragen wird und man zudem noch ihre Schatten an den Seiten sieht und überhaupt erzählen die Filmaufnahmen auf den Flachbildschirmen zusätzlich irgendwie noch ihre ganz eigene Geschichte. Doch sehen wir dies wahrlich gar nicht als wirklich negativen Kritikpunkt. Wir würden lügen, wenn wir behaupteten, dass beim ersten Schauen des Stückes bei uns direkt alles klar und verständlich war. Das übermächtige Eindrucks-Feuerwerk erhöht schlicht die Halbwertszeit des Stückes und fördert bei uns den Bedarf, es vielleicht noch ein weiteres Mal zu schauen und dabei dann ganz neue Dinge zu entdecken. Diesem Bedarf werden wir sehr gerne nachkommen!

Pardon wird nicht gegeben
Foto: Krafft Angerer; Ines Marie Westernströer, Simon Kirsch, Martin Reinke

Und die Moral von der Geschicht? Glück am Ende gibt es nicht! Sanchez und seinem Team gelingt es, in der dreistündigen Aufführung von Pardon wird nicht gegeben, dem Publikum einen leichten Schuss vor den Bug zu geben. Ein Schüsschen, vielleicht sogar eher. Die Zeit, aus der erzählt wird, liegt hundert Jahre in der Vergangenheit, doch wäre es gelogen, wenn man mit Blick auf die heutige Politik- und Gesellschaftsentwicklung nicht die eine oder andere Parallele zur Weimarer Republik ziehen könnte. Wenn das Große und Ganze in den Abgrund stürzt, sind auch Einzelschicksale betroffen. Hierfür greift das Theater eine Geschichte ohne Happy End auf und zeigt uns eine diskrete Warnung, ohne auch nur einmal mit dem Finger auf irgendjemanden oder irgendetwas zu zeigen.Wirklich große Kunst!

Wem wir Pardon wird nicht gegeben schmackhaft machen konnten, dem empfehlen wir hiermit dringend den Besuch einer der kommenden Vorstellungen. Weitere Infos zum Stück, zu den Darstellern oder den Spielzeiten findet ihr wie immer auf der Website des Theaters.

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