Beitragsbild: Dennis Häntzschel
Text: Marius Panitz (marius.panitz@theaterwg.de)
Die Idee, einen Vortrag oder wie hier einen geschriebenen Text. mit einem Sachbuch-Zitat als Opener zu starten, ist sehr altbacken. Dennoch sehen wir hierbei den Vorteil, dass wir alle von Anfang an genau wissen, wovon der Text den überhaupt handelt.
Als wir gestern das Theater an der Kö in Düsseldorf besuchten, um, eher im privaten Umfeld, Stefan Vögels Komödie Die Niere in der Inszenierung von Ute Willing zu sehen, stellten wir in der Selbstbeschreibung des Theaters den Begriff „Boulevardtheater“ fest und waren überrascht, dass es uns, trotz der vielen Theaterjahre, die wir auf unseren sicherlich noch jungen Theaterbuckeln tragen, noch nie in ebenjenes Boulevardtheater gezogen hat.
Die erste Amtshandlung nach der Rückkehr an den heimischen Schreibtisch ist der Griff zu Braunecks und Schneilins Theaterlexikon. Hier schreibt Horst Schumacher: „Heute bezeichnet Boulevardtheater allgemein Unterhaltungstheater auf kommerzieller Grundlage, oft mit Erfolgsstücken und Starbesetzung […]. Die besten Beispiele der comédie légère nehmen das Wohlstandsbürgertum aufs Korn, leben von Handlungsverwicklungen, Dreiecksgeschichten, Attacken auf die Standesmoral, die aber schließlich immer siegreich bleibt.“ Aha! Wirklich schlauer fühlen wir uns jetzt nicht wirklich. Aber vielleicht nähern wir uns diesem Begriff etwas sicherer, wenn wir es am Beispiel des Gesehenen konkretisieren.

Im Zentrum des Stückes stehen der erfolgreiche Architekt Arnold und seine Ehefrau Kathrin. Diese erhält die Diagnose eines Nierenleidens, wohingegen Arnold vor Gesundheit nur so strotzt. Schnell wird deutlich, dass Arnold die gleiche Blutgruppe hat wie Kathrin und somit als familiärer Spender in Frage kommt. Arnold druckst jedoch herum, hat große Angst vor den Risiken und Nebenwirkungen einer Transplantation und will deshalb partout seiner Frau seine Niere nicht geben, was für ausreichend Reibung sorgt. Als die beiden von ihren Freunden Diana und Götz besucht werden, stellt sich schnell heraus, dass auch Götz die passende Blutgruppe hat, was Arnolds Einstellung zur Spende noch einmal auf links dreht, denn will er wirklich, dass ein anderer Mann seiner Frau ein Organ vor ihm spendet? In einer Eifersuchtsszene deckt Arnold bei weitem mehr Geheimnisse auf, als ihm lieb ist.
Wir tun uns wirklich schwer, in der Inhaltsangabe mehr zu verraten, denn Vögels Stück lebt wahrhaftig vom schnellen Dialog und überraschenden Wendungen. Und tatsächlich von nichts anderem. Wo wir sonst Theaterstücke gewohnt sind, die untermalt sind von einem bildgewaltigen Lichtkonzept, einem dramaturgisch sinnvollen Einsatz von Musik oder tänzerischen oder performativen Elementen, ist Die Niere reines Sprechtheater mit einer wahrhaftigen Betonung auf „Sprech-“. Dies ist allerdings gar nicht weiter schlimm, denn die vier Schauspieler, Lara-Joy Körner (Kathrin), Hardy Krüger Jr. (Arnold), Katharina Paul (Diana) und Urs Schleiff (Götz) verstehen ihr Handwerk, die Dynamik der Texte Vögels reibungslos umzusetzen. Die Stückbeschreibung selber nennt sie „Ping-Pong-Dialoge“ und besser können wir dieses für Kurzweil sorgende Phänomen auch nicht beschreiben. Sprachlich begeistert das Stück demnach mit viel Charme, Witz und dem einen oder anderen Twist, der für manchen Dramaturgieklugscheißer vielleicht vorhersehbar, für den Großteil des Publikums aber sicherlich dennoch überraschend sein dürfte.

Ohne großartige Vergleiche zu anderen Theatern oder Theaterformen ziehen zu wollen, bemerken wir am Boulevardtheater an der Kö allerdings doch ganz bezeichnende Facetten. So wirken Mimik und Gestus auf der Bühne etwas pathetischer als wir es von anderen Bühnen gewohnt sind, was vermutlich auch der komödiantischen Stimmung geschuldet sein mag. Auch gesprochen wird mit viel mehr Wumms in der Stimme, als dies diese teilweise eigentlich sehr intimen Szenen auf der Bühne zumeist erfordern würden. Wir vermuten hierbei schlicht und ergreifend die Symbiose, die das komödiantische und Double-Take-garnierte Spiel mit den „Ping-Pong-Dialogen“ eingeht und kommen daher zu dem Entschluss, dass all dies in seiner Form des Unterhaltungstheaters vollkommen passend verortet ist.
Dessen Zweck definiert Bernd Poloni im oben angeführten Lexikon übrigens als „ausschließlich [der] Unterhaltung, d.h. [der] Zerstreuung des Zuschauers ohne Anspruch auf Erbauung oder Belehrung“ dienend. Hierbei müssen wir allerdings feststellen, dass Die Niere weitaus mehr liefert als reines Unterhaltungstheater. Spätestens in der Pause im Foyer wird deutlich, dass das Stück seine Zuschauer durchaus erbaut, auch ein wenig belehrt und ganz mutig die Standesmoral attackiert. Denn, obwohl die Handlung am Ende doch noch eine überraschende Wendung nimmt, diskutieren viele Zuschauer angeregt die Frage, ob sie einem nahen Angehörigen ein Organ spenden würden. Es wird zur zwiespaltenden Moralfrage auch mit Blick darauf, wie viel der Erkrankte, der die Spenderniere benötigt, von seinem Partner in dieser Frage erwarten darf. Somit macht Die Niere einiges richtig. Das Stück ist zweifelsohne Boulevardtheater und unterhält seine Zuschauer wirklich sehr gut. Dennoch geht es eben diesen einen Schritt weiter und regt wirklich zum Nachdenken an, was besonders in einer Gesellschaft, in der immer noch hitzig über die „Widerspruchslösung“ debattiert wird, ein topaktuelles Thema ist.

Auch bei der Besetzung macht das Theater so einiges richtig. Mit Blick auf den Spielplan, der solche Namen wie Jochen Busse, Hugo Egon Balder, Markus Majowski oder eben Hardy Krüger Jr. aufweist, wird das Konzept klar. Mit Berühmtheiten aus Film und Fernsehen holt sich das Theater an der Kö Zugpferde auf die Bühne, deren Gesicht auf Plakaten allerdings mehr ist, als lediglich eine Werbemaßnahme. Zumindest am Beispiel von Die Niere können wir feststellen, dass es sich bei der Inszenierung nicht um eine Hardy Krüger Jr.-Show handelte. Zwar ist Krüger, wie in der Bewerbung des Stückes, im Stück selber omnipräsent, stellte seine Schauspielkollegen allerdings nie in den Hintergrund. Wir genossen eine ausgeglichene Show, die allen Akteuren auf der Bühne Freiraum gab, ihre Rollen zu entfalten, ihnen an der Oberfläche sympathische und unterhaltende Nuancen, im Tiefgang aber auch sehr ernste und teilweise kühle und kalkulierende Facetten zu geben.
Somit sind wir abschließend froh, auch einmal den Gang ins Boulevardtheater gemacht zu haben und empfehlen jedem, den dieser Text nicht abgeschreckt hat, den Gang in ebenjenes. Die Niere wird noch bis zum 07.07.2019 gespielt. Wer also auf locker-leichte Unterhaltung mit einem Schuss Grübelmaterial steht, sollte sich auf der Website des Theaters ein wenig genauer über dieses Stück informieren.