Zum Erzählen in den Keller gehen – Eine Generalprobe der besonderen Art

Beitragsbild: Robert Christott
Text: Marius Panitz (marius.panitz@theaterwg.de)

Als wir die Einladung zur Generalprobe der Präsentation aus dem Fach „Erzählen“ des fünften Semesters der Theaterakademie (TAK) Köln erhielten, waren wir anfangs ein wenig skeptisch. In mehrerlei Hinsicht sogar. Zum einen klingt das Fach „Erzählen“, denkt man über das Wort nach, irgendwie eher langweilig. Theorielastig und staubtrocken. Klar, Schauspielschüler sollten in ihrer Ausbildung über diese Theorien unterrichtet werden, immerhin wird das Erzählen stets in irgendeiner Form ihren Berufsalltag prägen. Skeptisch aber auch, weil die Generalprobe, unter Theatermachern ganz hipp „GP“ abgekürzt, nicht auf irgendeiner Bühne stattfinden sollte, sondern im Haifischclub, einem eher für gute Cocktails denn für Theater bekannten Club im Kölner Severinsviertel, hinter dessen Eingang sich zuerst einmal eine Treppe befindet, die in Kellerräumlichkeiten führt. Dies, so geisterte es in unseren Erinnerungen, fühlte sich an, wie diese Form von Theater, die bei uns damals bei einer Performance der Gruppe machina eX so sehr zu Diskrepanzen führte, dass wir einen Text mit zwei unterschiedlichen Meinungen schreiben mussten. Geprägt von Gleitgel-auf-Fuß- und Kondom-mit-Babypuderhänden-über-Holzpenis-stülpen-Traumata, war ich es nämlich, der keinen wirklichen Spaß mit dieser Form des Theaters zum Eintauchen hatte. Dennoch sagte ich der Einladung mutig zu und bin am Ende froh, dass ich hingegangen bin.

Zuerst einmal muss das bisher gezeichnete Bild entschärft werden: So immersiv und nah wie wir es damals bei machina eX erlebten, war die Vorstellung der TAK-Schüler und -Schülerinnen nicht. Berührungen und vor allem Gleitgel und Holzpenisse blieben gänzlich aus. Dass diese Theaterform aber dennoch berührend war, bewies die Erzählen-Klasse uns heute.

Ich betrete mit sechs weiteren Zuschauern den Club und tauche ein in ein Szenario, auf das ich mich einzulassen bereit bin, obwohl ich nicht genau weiß, was kommen wird. Die Schauspieler und Schauspielerinnen haben sich in der Location verteilt, einige sitzen auf Stühlen, andere wiederum lehnen an Stehtischen und eine Schauspielerin gibt die Barkeeperin. Passenderweise ist für jeden Schauspieler und jede Schauspielerin genau ein Zuschauer, beziehungsweise eine Zuschauerin vor Ort, sodass wir uns gleichmäßig auf die in fesche Kleider und Abendanzüge kostümierten Spielerinnen und Spieler verteilen können. Dieses System verstehe ich nicht sofort, sodass ich erst einmal mittig im Raum stehen bleibe. Sowie ich sehe, dass alle ZuschauerInnen sich verteilt haben, stelle ich fest, dass ich ebenfalls meine Position gefunden habe, mache einen Schritt an die Bar, nehme auf dem Barhocker Platz, hier, so vermute ich, ist jetzt meine Position in diesem Stück.

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Foto: Robert Christott

Eine Glocke wird geschlagen und die junge Schauspielerin hinter der Theke sucht meinen Blick und stellt mir die Frage, ob ich mich bereits einmal mit dem Begriff „Phobie“ auseinandergesetzt habe. Oh Gott, werde ich jetzt mit einbezogen? Muss ich antworten? Oder ist das eine rhetorische Frage und ich fahre ihr mit meiner potenziellen Antwort in ihre Parade? Kurze Schockstarre, die Schauspielerin merkt vielleicht, dass ich noch nicht ganz angekommen bin, lächelt vertraut, präzisiert ihre Frage: „Hast Du Höhenangst?“. Immer noch bin ich mir nicht sicher, ob ich antworten soll, nicke verhalten. Dieses Nicken nimmt sie in ihr Spiel auf: „Ja? Ich auch! Ich habe total Höhenangst!“. Cool! Ich glaube, ich habe das Spiel verstanden.

Bevor der Leser allerdings die Illusion bekommt, es handle sich um einen inszenierten Gesprächskreis, in dem mit Fragen und Antworten nur so um sich geworfen wird, will ich diese Illusion sogleich zerstören. Dem Namen des Faches entsprechend, „erzählen“ die Schauspielerinnen und Schauspieler in ihrer Performance tatsächlich Geschichten. Sehr persönliche Geschichten. Geschichten, die sie selber geschrieben und mit ihrem Dozenten Robert Christott ausgearbeitet und auf die Bühne, Pardon, in den Haifischclub gebracht haben. Das irgendwie über all diesen Geschichten diffus schwebende Thema ist „Selbstliebe“.

Und so erzählt die Schauspielerin ihre Geschichte weiter, leitet vom Eisbrecher, der Frage nach Höhenangst, geschickt über auf eine ergreifende persönliche Geschichte, die mit einer Date-Sequenz aus ihren Teenie-Jahren beginnt, immer ernster wird, plötzlich ihr Coming-Out thematisiert und damit sehr pfiffig den Bogen zurückschlägt zur Einleitung, geht es doch hier um Homophobie, wie die Schauspielerin sie selbst erlebt hat. Oder war es die Rolle? Ich falle nach der Geschichte ins Grübeln.

Genau dies ist der Knackpunkt, der uns als Besucher dieser Probe die ganzen 75 Minuten immer wieder beschäftigt hat. Wie viel Fiktion steckt in diesen Geschichten? Es ist die Rede von Angst vor Zurückweisung, familiären Spannungen, universitärem Druck, falschen Schönheitsidealen und vielem mehr. Persönliche Themen also, wie sie uns alle betreffen könnten. Nachdem die Glocke wieder geschlagen wird, wechseln die Schauspieler, wir Zuschauer bleiben bequem sitzen. Jeder Darsteller und jede Darstellerin erzählt mir jeweils zehn Minuten seine oder ihre Geschichte. So persönlich und so nah, dass ich mich frage, der ich anfangs darüber unterrichtet wurde, dass die Geschichten selbst geschrieben wurden, wie viel preiszugeben die SpielerInnen hier bereit waren und sind. Was nun autobiografisch ist und wo durch Fiktion und das Mittel der Lüge die Geschichten letztendlich frisiert wurden, tut am Ende aber tatsächlich nichts zur Sache. Denn ergreifend, spannend und mitreißend waren sie genauso wie tiefsinnig, einfühlsam und unmittelbar.

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Foto: Robert Christott

Und hier, bei diesem letzten oben aufgeführten Adjektiv, liegt der Hund begraben: Die Texte sind unmittelbar, direkt und damit sehr nah. Manch einem Zuschauer vielleicht zu nah. Zudem stelle ich überrascht fest, dass auch ich erst mit der Situation warm werden musste und dass es, zumindest anfangs, schwierig ist, einem fremden Menschen so lange in die Augen zu schauen, durchgehend diesen Blick zu halten und ich kann mir durchaus vorstellen, dass dies für die Schauspieler ebenfalls eine spannende Herausforderung ist. Diese Nähe wirkt nämlich auch umgekehrt. Wer schon einmal auf einer (Theater-)Bühne gestanden hat, kennt das: Man spielt für ein Publikum, ein nicht individualisierbares Konglomerat an Menschen, meistens blenden die Scheinwerfer zudem, sodass die starrenden Gesichter in diesem starken Schimmer sowieso untergehen. Hier aber, im Haifischclub, ein ganz nahes Erlebnis, manchmal, wenn sich die SchauspielerInnen nach vorne lehnen, sind weniger als 30 Centimeter zwischen uns. Irgendwie, obwohl die Spieler zum Großteil nur monologisieren, entsteht so eine Art „Wir-Moment“. Leichte Impulse meinerseits, ein Lächeln an einer lustigen Stelle, ein erstauntes Hochziehen der Augenbrauen bei Überraschungen nehmen die Spieler gekonnt auf und reagieren ganz individuell auf den Zuschauer und haben so heute, so vermute ich, ebenfalls sieben Mal unterschiedliche Erlebnisse mit ihren Geschichten. Die Texte wurden zwar auswendig gelernt, allerdings dennoch frei und auf den Zuhörer und seine Reaktionen angepasst erzählt. Da wirkte auch der eine oder andere Versprecher vollkommen unproblematisch. Wie im Gespräch eben. Die Tatsache, dass die SchauspielerInnen nach dem Glockenschlag weitergehen und einem anderen Zuschauer ihre Geschichte erzählen, fühlt sich bei all der Nähe dann schon so manchmal ein wenig an wie Fremdgehen und man erwischt sich dabei, wie man zum Nachbarn schaut und eifersüchtig den „Wir-Moment“ zum „Ihr-Moment“ werden lassen sieht.

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Foto: Robert Christott

Obwohl, unterbrochen durch einige sehens- und vor allem hörenswerte chorale Elemente, eigentlich wirklich die ganze Performance über erzählt wird, wurde es in keinem Moment langweilig. Ganz im Gegenteil: Einmal das Prinzip verstanden, wollte man mehr erfahren über die Personen und Persönlichkeiten, die da im Haifischclub rotierten, kam mit ihnen, wenn nach ihrer Geschichte noch etwas Zeit blieb, sogar in ein auf dem Erzählten basierendes Gespräch, weshalb dieser sonnige Vormittag von sehr viel Kurzweil geprägt war.

Und wofür wurde nun generalgeprobt? Und wieso habe ich den Namen des Stückes bisher noch nicht genannt? Nunja, das erklärt sich vermutlich zusammen. Die besuchte Probe war eine Vorbereitung auf die diese Woche startende Prüfungswoche an der Theaterakademie, die Performance ist die Endproduktion des oben genannten Faches „Erzählen“ und wird dann bald auch der Prüfungskommission vorgeführt werden. Wer fleißig unseren Blog verfolgt, weiß, dass auch wir bereits einmal begeistert eine Prüfungswoche an der TAK besuchten, denn der Clou: ein Großteil der Prüfungen ist öffentlich und für interessiertes Publikum zugänglich. Mit dieser Generalprobe weckt die Schule auf jeden Fall Neugierde auf mehr. Weitere Infos zu den Vorspieltagen sowie einen genauen Zeitplan der einzelnen Prüfungen findet Ihr auf der Website der Schule.

Und so beenden wir diesen Text mit einem Wunsch: Wir wünschen uns, dass dieser bunte Blumenstrauß an wirklich persönlichen und individuellen Geschichten im Rahmen dieser mehr als passenden Location nach den Prüfungen nicht einfach auf den theatralen Kompost geschmissen, sondern weiterentwickelt, mit einem fetzigen Titel versehen und dann vielleicht als fester Posten im Spielrepertoire der TAK erneut der breiten Theateröffentlichkeit vorgeführt wird. Wir würden uns freuen und kämen herum, solang es nur keine Holzpenisse gibt!

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