Beitragsbild: Nathan Ishar
Text: Marius Panitz (marius.panitz@theaterwg.de)
Wer heute ins Theater geht, sollte durchaus dafür gewappnet sein, auf postdramatische Stücke zu treffen. Dass diese den oder die einen oder anderen Theatergänger*in oder gar Kritikerkollegen*in nicht in euphorisches Erstaunen versetzen, mag vielleicht zu verzeihen sein, denn postdramatische Ansätze sind ja doch immer gewöhnungsbedürftig.
Derjenige also, der sich gerne seinen klassischen Schiller oder Goethe anguckt, die Ausgestaltung und tiefgründige Analyse der Rollen, der mitreißende Konflikte oder ein spannungsgeladenes Miteinander auf der Bühne sucht, wird sich des postdramatischen Theaters nicht erfreuen. Mit diesem Text wollen wir aber für diesen Bühnenzauber eine Lanze brechen.
Am vergangenen Wochenende schafften wir es endlich, uns eine Arbeit des Analogtheaters anzusehen. Wir hängen da, das müssen wir zugeben, etwas hinterher, denn die mit Preisen überschüttete Theater- und Performancegruppe aus Köln gibt es bereits seit 2004. Da waren wir 13 Jahre alt und das einzige Theater, das wir mitbekamen, waren Theatergruppen, die am „English Day“ in unsere Schule kamen und Shakespeare spielten, zur Verbesserung der Sprachkompetenz.
Nun haben wir uns aber geschworen, alles Verpasste nachzuholen und gingen mit dem Stück Die Psychonauten: Rausch auf Tuchfühlung mit dem Analogtheater. Angekündigt wird uns die zweite Produktion aus der Die Psychonauten-Reihe der Gruppe als „sich transdisziplinär mit den Begriffen Rausch, Ich-Auflösung, Masse und Individuum, Grenzen und Grenzüberschreitungen im gesellschaftlichen und performativen Raum“ beschäftigendes Projekt.
Und hiermit versprach die Gruppe um ihren Regisseur Daniel Schüßler nicht zu wenig. Die Bühne ist leer. Auf ihr befinden sich die fünf Schauspieler*innen Dorothea Förtsch, Marje Hirvonen, Lara Pietjou, Ingmar Skrinjar und Tim Stegemann. Sie wirken allesamt als wären sie bereit für eine Aerobic Stunde in den 80er-Jahren. Sie tragen weiße Turnschuhe, darauf hochgezogene weiße Sportsocken, graue Shorts, ein weißes Shirt und allesamt blonde Perücken und sehen hiermit aus wie Stefan Effenberg 1990.

In den kommenden 70 Minuten werden sie kein einziges Wort sprechen. Zumindest nicht mit ihrer Stimme. Das Stück ist durchweg definiert durch choreografische Tanz- und Bewegungselemente zu Musik und zu von Regisseur Schüßler höchstselbst ins Mikrophon gesprochene, meist durch Effekt verstärkt nachhallende Texte. Und diese Texte sind wahre Poesie. Eine Kostprobe?
„We are bored von das borders
Von das danger of Kitsch
Von das enger werden of das Scheibe
We must us ready machen
Damit wir as tief as possible fallen können
Regungslos
Ohne das Bewegung
Mit das Mund wide offen
Unter das Himmel
Mit das Kopf auf 100 Prozent
Prep pepepp pepepp
Fucking Sonnenuntergang
We could paint das besser“
Was sich hier in unserer Besprechung vielleicht merkwürdig liest und wirkt, wie der Poetry-Slam-Beitrag einer 19-Jährigen, die nach dem Abi ein Jahr Work and Travel in Australien gemacht hat und nun meint, die Welt für sich entdeckt zu haben, verschmilzt im Zusammenhang des Stückes mit all den weiteren Darstellungselementen zu einem wahrhaft poetischen Gesamtbild.
Die Bühne von Eva Sauermann und die Musik von Ben Lauber entwickeln mit den Texten von Daniel Schüßler und der präzisen physischen Darstellung der Schauspieler*innen ein Gesamtbild, das dazu einlädt, sich zurückzulehnen und in das Gesehene einzutauchen. Auch, wenn wir nicht auf plumpe Aussagen in unseren Rezensionen abfahren, und auch, wenn wir bis auf das eine Glas Bier, Wein oder Limo-Korn zu viel nicht wirklich große Erfahrungen mit Rausch haben, fühlt sich dieses Stück irgendwie genauso an. Wir wollen uns mitnehmen lassen auf diese surreale Reise, auf diese Art Traum-Erlebnis, zu dem uns die Darsteller*innen einladen.
Die Bühnenfläche ist frei und besteht aus einem Umbau aus transparenter Folie, in die im Laufe des Stückes Nebel von einer Nebelmaschine eingespeist wird. Das Licht der hinter der Folie stehenden Scheinwerfer und ebenjener von der Decke wird durch den Nebel gestreut und wirft in schnellem, manchmal stroboskopartigem Wechsel ein farbenfrohes Durcheinander auf die Darsteller*innen.
Diese rackern sich derweil in ihren Bewegungen auf der Bühne bis in die wahre körperliche Erschöpfung. Neben unserem allergrößten Respekt alleine schon für diese Anstrengung, das ganze Stück über in Dynamik zu agieren, wollen wir Arbeit von Marje Hirvonen, die nicht nur Darstellerin, sondern auch für die Choreografien zuständig ist, lobend hervorstellen. Wir sehen nicht unbedingt Tanz, wobei wir, bei allem, was wir bisher gesehen haben, auch nicht mehr definieren können, was überhaupt noch „Tanz“ ist. Jedenfalls sehen wir keine klassischen Tanzbewegungen. Wir sehen eher ein wildes Durcheinander, das im Laufe des Stückes immer wieder zu sich findet, eine Einheit bildet, nur um dann wieder in völligem Chaos auseinanderzubrechen. Und das sehen wir nicht nur einmal.
Das Stück lebt von Wiederholungen. Tänzerische Elemente sowie Teile des Textes und auch die Musik wiederholen sich im Laufe des Abends mehrmals. Doch erwischen wir uns kein einziges Mal bei dem Gedanken „Das haben wir doch schon gesehen!“. Ganz im Gegenteil: Irgendwie freuen wir uns, diese Elemente wieder zu entdecken. Wir bemerken sogar bei einer Bewegungsabfolge, die wirklich häufig hintereinander abgespielt wird, dass unsere Sinne für die Details geschärft werden. Wir überlegen natürlich, was von uns als Zuschauern erwartet wird. Ist das eine Geduldsprobe? Machen die das jetzt den Rest des Abends? Oder nur so lange, bis der erste Zuschauer aufsteht und geht? Liegt der Teufel im Detail? Wir schauen genauer hin. Und bemerken Unterschiede in der Darstellung, die zuerst als bloße Wiederholung anzusehen war. Ob diese Unterschiede echt waren oder ein Darsteller hier mal länger auf dem Boden liegt oder dort mal eine Bewegung aus Versehen auslandender gestaltet, war uns am Ende aber egal. Wir konnten uns irgendwie nicht satt sehen.
Und was hat uns das Stück jetzt mitgeteilt? Welche Message haben wir mitgenommen? Welche Antwort auf die unheimlich wichtigen Fragen des Lebens haben wir bekommen? Um ehrlich zu sein: Wir wissen es nicht. Wir ließen uns auch für diese Rezension etwas mehr Zeit, um vielleicht auf eine Idee zu kommen. Doch nein. Keine Antwort. Aber vielleicht ist es auch genau das, worauf das Analogtheater mit Die Psychonauten: Rausch hinauswill. Den Theaterzuschauer ein wenig aus seiner Komfortzone herauslocken und wieder mehr an das Fühlen als an das Verstehen zu appellieren. Dies hätte jedenfalls sehr gut funktioniert. Nach kurzer Zeit haben wir die Muster des Stückes durchblickt, verstehen, dass Elemente stets wiederholt werden, begleitet von verfremdeter, verdenglischter Sprache, die als Reinsprache nur in Deutsch oder nur in Englisch das Gesehene keinesfalls so gut ergänzt hätte. Schüßler beherrscht das rhythmische Spiel mit der Sprache perfekt, spricht seinen Text pointiert, gibt ihm hiermit stehts eine passende Färbung und verzeiht uns hoffentlich den einleitenden scherzhaft gemeinten Vergleich mit der Australien-Abiturientin.
Vielleicht ist es ja genau das, was angekündigt war. Das Auflösen von bekannten Grenzen und das „Erleben von Gemeinschaft und kollektiven Erfahrungen und dem Gefahrenpotenzial von Massenbewegungen“, wie es das Programmheft schildert.

Wir konnten uns wirklich auf das Gesehene einlassen, uns zurücklehnen ohne die Angst, etwas zu verpassen. Nur so konnten wir locker werden und wirklich einmal in uns hineinhorchen und klarwerden darüber, was wir überhaupt fühlten. Und das war ein Misch an Verschiedenstem. Wir würden lügen, wenn wir behaupten würden, nicht zuerst auch Ungeduld verspürt zu haben. Doch diese wich dann einem Wohlsein, einer seichten Unterhaltung und einem Gefühl der Zufriedenheit, die zugleich aber gefolgt wurde von (An)Spannung, denn, einmal auf das Stück eingelassen, spielt es mit Dynamiken, wird mal pianomäßig ruhig und mal scootermäßig heftig, aber eines wird es, trotz der Wiederholungen, nie: langweilig.
Und anscheinend haben wir mit diesen Empfindungen gar nicht so falsch gelegen. Im Gespräch nach dem Stück offerierte uns Regisseur Daniel Schüßler einen Happen aus seinen von Wittgenstein inspirierten Gedanken. Dieser nämlich sieht in der Gefühlsebene des Menschen eine Sprache, die nicht vermittelt werden kann. Mit diesem Hintergrundwissen funktioniert Die Psychonauten: Rausch sogar noch viel besser. Es sendet die verschiedensten Emotionen aus und jede*r Zuschauer*in rezipiert sie für sich, ganz persönlich, ganz nah. Ein tolles Experiment, das aus unserer Sicht mehr als gelungen ist.
Nach 70 Minuten, die uns ob der Kurzweil nicht vorkamen wie 70 Minuten, war dann Schluss. Das Licht ging aus, die Zuschauer klatschten und wir mussten uns zuerst einmal zurückfinden in das Hier und Jetzt, auf dem Zuschauersitz der Studiobühne Köln. Wir können durchaus verstehen, dass manch ein*e Zuschauer*in vielleicht naserümpfend und „Was für eine Zeitverschwendung“ denkend das Theater verlässt verlassen hat. Über Kunst soll man streiten, es wäre durchaus langweilig, wenn jede*r die gleiche Meinung hat. Gerade über postdramatisches Theater wurde ja schon viel gestritten. Doch wollen wir diesen Leuten mit auf den Weg geben: Wie oft habt ihr im Theater schon mal in Euch hineingehorcht und Eure Gefühle am aktiven Spiel partizipieren lassen? Auf Die Psychonauten: Rausch muss man sich einlassen, man muss für dieses Stück bereit sein und man darf vor allem keine Antwort auf eine Frage, kein klares Statement zu einem Thema und schon gar kein An-die-Hand-Nehmen erwarten. Wer dies nicht tut, wird mit dem neusten Stück des Analogtheaters sehr viel Freude haben. Auch wir müssen zugeben, dass wir uns manchmal inhaltlich in der Darstellung verloren haben. Das Thema der Grenzen und der Grenzauflösung und unserer Verortung in unserer neuen Welt springt uns, im Gegensatz zu den beschriebenen Gefühlen, quasi wortwörtlich, nicht direkt ins Gesicht. Doch dies tut dem Gesehenen keinen Abbruch und lädt vielleicht auf einen zweiten Vorstellungsbesuch ein, bei dem wir sicherlich wieder Neues entdecken werden.
Zum Schluss eine schlechte und eine gute Nachricht: Für dieses Jahr ist Die Psychonauten: Rausch leider bereits abgespielt. Hier jedoch die gute Nachricht: Im nächsten Jahr kehren die Psychonauten zurück. Wem wir hiermit Appetit gemacht haben, der oder die notiere sich bereits jetzt den Zeitraum zwischen dem 05. und 09. Februar 2020, denn hier sind weitere Aufführungen geplant. Infos hierzu, zu allen weiteren Stücken und zum Analogtheater selber findet ihr wie immer auf der Website der Gruppe. Und auch wir wollen das seit 2004 Verpasste kompensieren und werden künftig gerne über alles Weitere des Analogtheaters berichten.
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