Beitragsbild: Marco Piecuch
Text: Marius Panitz (marius.panitz@theaterwg.de)
„Faust“ ist, sofern der Artikel „der“ davor geschrieben oder gesagt wird, im wahrsten Sinne des Wortes ein Klassiker der deutschen Literatur. Und wenn wir es genau nehmen, auch ein Stürmer und Dränger sowie ein Romantiker. Denn Johann Wolfgang von Goethe schrieb, das weiß jeder, der mal einen Unnützes-Wissen-Abreißkalender besessen hat, knapp 60 Jahre an dem Stoff seines Universalgelehrten, der sieht, dass wir nichts wissen können, in genau 12.111 Versen das verarbeitet, was man heute vielleicht Midlife-Crisis nennt und überbrückt damit sogleich mehrere Literaturbewegungen. Die Handlung um Doktor Faust, der „nun, ach! Philosophie, / Juristerei und Medizin,/ Und leider auch Theologie!/ Durchaus studiert“ hat und nun dasteht als „armer Tor!“ und so klug ist „als wie zuvor“ und Mephistopheles den Teufel, der mit dem Lieben Gott eine Wette abschließt, Faust vom rechten Wege abzubringen, hat sicher jeder bereits einmal in irgendeiner Form gehört und würde in ihrer Beschreibung den Textrahmen sprengen. Für Interessierte weisen wir aber gerne auf den Youtube-Kanal des Regisseurs, Autors und Dramataurgen Michael Sommer hin, der die Handlung der Tragödie binnen neun Minuten anschaulich mit Playmobilfiguren darstellt (wirklich unterhaltsam und sehenswert!).
Das Werk, das in zwei Teile eingeteilt ist, kann, so bewies Regisseur Peter Stein dies im Jahr 2000, wenn es gänzlich durchgespielt wird, über 21 Stunden dauern und sich somit auf ganze zwei Tage ausdehnen. Oder aber man macht es wie das Rheinische Landestheater Neuss, reduziert es auf 100 Minuten und packt es in eine weiße Holzkiste.

Obwohl, diese Beschreibung wird dem, was wir vergangenen Freitag auf der Studiobühne des RLT gesehen haben, nicht gerecht, deshalb holen wir etwas weiter aus.
Faust@WhiteboxX, so steht es als offizieller Titel auf der Eintrittskarte, auf dem Programmflyer steht nur Faust. Was ist nun was? Schnell wird klar, mit der WhiteBoxX ist ein Konzept gemeint, das Tom Gerber, neues Ensemblemitglied und zudem Regisseur in Neuss vom Hessischen Staatstheater Wiesbaden mit nach Neuss brachte und hier nun, das wollen wir mal vorsichtig vermuten, erfolgreich etabliert hat.
Das Konzept „WhiteBoxX“ „bezeichnet einen puristischen Bühnenraum, der einem formalen Dogma unterworfen ist“, steht es im Programmheft beschrieben. Ein weißer Kasten dient als Guckkasten-Spielfläche für ein Publikum, das aus nicht mehr als 200 Zuschauern bestehen sollte. Der gesamte Rahmen ist weiß, es gibt kaum Kulisse. Zudem erfordert das Konzept noch acht Regeln, die wir, der Faulheit wegen, mal eben aus dem Programmheft zitieren:
- Alle theatralen Vorgänge finden innerhalb der WhiteBoxX statt.
- Im Mittelpunkt steht der der Aufführung zugrunde liegende Text und die Arbeit der Darsteller mit ihm.
- Zur szenografischen Gestaltung darf mit jeder Form von Projektion und Licht gearbeitet werden.
- Die Kostüme der jeweiligen Aufführung müssen der im darzustellenden Werk angelegten Zeit / Epoche entsprechen.
- Es dürfen ausschließlich Requisiten verwendet werden, die der Handlung des Stückes entsprechend vonnöten sind, keine interpretativen oder illustrativen.
- Es kann eine Wand pro Aufführung weggelassen werden,
- Es kann ein Möbel pro Aufführung hinzugefügt werden. Dieses muss handlungsimmanent sein.
- Ein Vorhang kann als vierte Wand, muss aber nicht eingesetzt werden.
Inhaltlich orientiert sich das Format vor allem an klassischen dramatischen Stoffen, besonders mit Bezug auf abiturrelevante Themen, „ist als Format für Schüler gedacht, für Fans gemacht, aber auch für Theaterneulinge und besonders für -puristen geeignet“, wie die Beschreibung des Formats im Programmflyer endet. Das klingt als Konzept äußerst spannend, setzen sich die Macher der Inszenierung durch ihre eigens gemachten Regeln Herausforderungen, die sich letztendlich in der Dynamik des Spiels widerspiegeln sollen. Das klingt nach einem äußerst spannenden Konzept, das aber auch durch die Einschränkungen durchaus nach hinten losgehen kann. Also: Hat’s mit dem Faust geklappt?

Mit nur vier Darstellern bringen die Künstler um Initiator, Regisseur und Mitspieler Tom Gerber, Anna Lisa Grebe, Niklas Maienschein und Ulrich Rechenbach den berühmtesten Gelehrten der deutschen Literaturgeschichte auf die Bühne. Hierbei, das kann man sich denken, wird das Werk trotz Mehrfachbesetzungen um einige Rollen und auch Schauplätze gekürzt, der Goethe’schen Sprache geht es in den gespielten Szenen aber nicht an den Kragen. Durch die Reduktion der darstellenden Mittel und die Fokussierung eben auf den weißen Raum und die zeitgenössischen Kostüme, steht daneben eben schnell der gesprochene Text im Vordergrund, es gibt kaum etwas, was von ihm ablenkt. Schnell bemerkt man als Zuschauer, dass dieser Purismus sogleich an die Vorstellungskraft appelliert, man soll auf die Sprache achten, das Schauspiel verinnerlichen und hierfür hat Regisseur Gerber ein gutes Händchen bewiesen. Es ist nichts störend weggekürzt und zugleich nicht zu viel Text, als dass man erschlagen wird und sich in der Sprache Goethes verlieren könnte. Die Kürzungen werden durch Erzählerpassagen aufgefangen, sodass der rote Faden bestehen bleibt. Hin und wieder erkennen wir im Stück und im Spiel ein zwinkerndes Auge, man ist gewillt, die Verbindung zum Zuschauer trotz der vielleicht etwas schwierigeren Sprache nicht zu verlieren. Wenn sich Faust auf einen Eimer setzt und, vom Publikum abgewandt, sein großes Geschäft verrichtet, Mephistopheles als Lone-Ranger-Tonto zu indianischen Trommelrhythmen einen mitreißenden Stammestanz im Schattenspiel darbietet, oder das Gretchen einige Passagen ihres Textes in lupenreinem Hessisch daherbabbelt, nehmen wir frischen Wind in der Inszenierung wahr und bleiben begeistert am Ball.
Hinzu kommen musikalische Einspielungen, verschiedene Farb- und Lichtstimmungen, die Videoprojektion eines wirklich gruselig anmutenden Erdgeistes, unterschiedliche Dynamiken in der Spielgeschwindigkeit, einfühlsam leise sowie mitreißend laute Momente, die Faust@WhiteBoxX zusätzlich zu einem kurzweiligen Theaterabend werden lassen, der in dieser Form sicher auch Johann Wolfgang selbst gefallen hätte.
Dennoch stellten wir fest, als wir uns im vollbesetzten Auditorium der Studiobühne umsahen, dass wir, die wir auch strammen Schrittes auf die 30 zugehen, den Altersdurchschnitt drastisch unterschritten. Im Foyer hörten wir bereits vor Beginn überheblich laut gesprochene Selbstbeweihräucherungen der dort in überraschend übermäßiger Anzahl vertretenen Deutschlehrer*innen, die keine Gelegenheit verpassen wollten, sich hier ob der vielen über Faust abgehaltenen Unterrichtsstunden als Goethe-Experte zu stilisieren und allen Anwesenden ungefragt unter die Nase zu reiben, wie oft sie denn den Faust schon gelesen und gesehen haben. Einige dieser Lehrer*innen brachten ihre Schüler*innen mit, die sich umblickten, als hätten sie diese ominöse Gesellschaftsform „Theater“ das erste Mal gesehen.

Doch gerade für diese jungen Menschen ist das Format WhiteBoxX wie geschaffen, weshalb wir mit dieser Besprechung noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen wollen, dass das Stück Faust in keiner Weise auf die junge Generation abschreckend wirken soll. Natürlich, auch in 100 Minuten kann es den einen oder anderen Zuschauer geben, für den das Stück einfach zu textlastig ist. Darüber können Licht-, Sound- und Videoeffekte auch nicht hinwegtäuschen. Und die Sprache ist bei weitem eine, auf die man sich, sollte man den Klassiker vielleicht vorher noch nicht einmal gelesen haben, intensiv konzentrieren muss, damit man folgen kann, das kann auch die gekürzte Version der Neusser nicht ändern. Das muss sie unserer Ansicht nach aber auch gar nicht. Wir appellieren an Dich, lieber Leser oder liebe Leserin, pack Dir Tochter, Sohn, Neffen, Nichte oder sonstiges junges Gemüse, zeig ihm oder ihr Faust@WhiteBoxX und, das ist ganz wichtig, sprich im Nachhinein mit ihm oder ihr über das Gesehene und lass Dich überraschen, was er oder sie so alles verstanden hat.
Mit dem Format @WhiteBoxX will das Rheinische Landestheater Neuss alten Klassikern ein neues Gewand geben und vor allem den jungen Zuschauern die Angst vor zu trockenem oder zu langweiligem Stoff nehmen. Künftig sind Berühmtheiten wie Lessings Nathan der Weise oder Hoffmanns Der Sandmann geplant und eines steht bereits fest: Wir werden dabei sein.
Wer sich genauer über das Format oder Faust@WhiteBoxX informieren möchte, dem legen wir einen Besuch der Website des Theaters nahe.
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