So geht Romanbearbeitung für die Bühne: Tyll am Schauspiel Köln

Beitragsbild: Foto: Tommy Hetzel
Text: Marius Panitz (marius.panitz@theaterwg.de)

Seit das Schauspiel Köln im September 2018 Daniel Kehlmanns Schelmenroman Tyll als Theaterversion auf die Bühne gebracht hat, ist schon viel Wasser den Rhein herabgeflossen. Oder – die Inszenierung bietet diese Steilvorlage – über die Bühne. Leider schafften wir es erst letzte Woche ins Depot 1 des Schauspiel Köln, um uns dieses fast vierstündige Opus Magnum anzusehen und liefern hier, auch wenn sicherlich bereits viele Theatergänger*innen sich die Inszenierung angesehen und sich eine Meinung darüber gebildet haben, unsere Eindrücke nach.

Zum Warmwerden wollen wir uns nicht scheuen, deutlich zu machen, dass wir eigentlich gar keine Fans von Romanbearbeitungen auf der Bühne sind. Für gewöhnlich sind diese sehr textlastig, übernehmen das Narrativ mit, es gibt vielleicht einen Erzähler, der außerhalb des Geschehnisses steht und sich – die vierte Wand durchbrechend – an die Zuschauer wendet und uns in nicht enden wollenden Wortschwallen ebendas erzählt, was wir sowieso gerade auf der Bühne sehen. Eine übertriebene Reizüberflutung setzt ein und wir sind geneigt, uns in die gemütlich gepolsterten Theatersessel zurückzulehnen, die Augen zu schließen und aus all dem, was da auf der Bühne passiert, ein Hörspiel zu machen. Wieso aber ist die Kölner Inszenierung von Tyll, die durchaus ebenfalls die oben beschriebenen Elemente aufweist, uns so lange im Gedächtnis geblieben? Wieso hat sie uns so gefesselt, wenn wir diese Art von Theater doch eigentlich meiden wie der Teufel das Weihwasser? Ein Erklärungsversuch.

Im Jahr 2017 gewann Daniel Kehlmann, besonders bekannt für seinen Roman Die Vermessung der Welt (2005), in dem er die Biografien von Carl Friedrich Gauß und Alexander von Humboldt abwechselnd auf teilweise fiktive Art darstellt, mit einem weiteren Historienroman, Tyll, die Feuilletons wieder für sich. Ins Zentrum seines Romans stellt Kehlmann den Gaukler Tyll Ulenspiegel, der zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges durch das Deutsche Reich zieht. Allerdings handelt es sich hierbei weniger um eine Biografie eines Gauklers, der nicht unbeabsichtigt Ähnlichkeiten zum spätmittelalterlichen Till Eulenspiegel hat, sondern eher um ein Porträt jenes Glaubenskonflikts, der von 1618-1648 Europa in grausame Verwüstung stürzte.

Tyll Ulenspiegel hat, bevor er als Narr und Gaukler durch die ins Chaos gestürzten und durch Kampf und Schlacht verwüsteten Landschaften des Dreißigjährigen Krieges zieht, eine schwere Kindheit. Als Kind wird er mit einem Esel allein im Wald gelassen, was seine Spuren an ihm hinterlassen wird und als Initiation für seinen schwierigen Charakter gilt. Nachdem sein Vater, ein Müller, der sich leidenschaftlich gern mit Magie beschäftigt, von Jesuiten als Hexer zum Tode verurteilt wird, flieht er mit seiner Freundin, der Bäckerstochter Nele, aus seiner Heimat und lässt seine Kindheit in Armut und Hunger hinter sich. Kurz darauf werden die beiden vom Gaukler Pirmin aufgelesen und durch den wenig einfühlsamen und Perfektion fordernden Choleriker für ein Leben beim fahrenden Volk ausgebildet. Nach einer unrühmlichen Trennung von Pirmin ziehen Tyll und Nele nun durch das Land, machen teils gemeinsam, teils einzeln Halt in verschiedensten Stationen im historischen Deutschland samt Nachbarschaft des 17. Jahrhunderts. Hierzu gehört unter anderem der klägliche Hof des verstoßenen „Winterkönigs“ Friedrich V. und seiner Ehefrau Elisabeth Stuart, einer Enkelin der berühmten Schottenkönigin Maria Stuart, die gemeinsam im holländischen Exil leben, ein Kloster in Zusmarshausen, ein eingestürzter Schacht unter Brünn, einer Stadt im heutigen Tschechien. Zudem werden wir Zeuge, wie Athanasius Kircher, einer der beiden Jesuiten, die für den Tod von Tylls Vater verantwortlich sind, im norddeutschen Holstein den letzten Drachen des Nordens sucht und stattdessen Tyll findet, der derweil Impresario, also der Leiter eines Wanderzirkus‘, geworden ist.

Tyll
Foto: Tommy Hetzel; Auf dem Bild: Robert Dölle, Melanie Kretschmann, Marek Harloff und Peter Miklusz

Was in dieser kurzen Inhaltsübersicht, die sich irgendwie um chronologische Genauigkeit bemüht, sehr unübersichtlich wirkt, ist vermutlich zum einen der knackigen Kürze, zum anderen aber auch der achronologischen Erzählweise des Romans geschuldet, die die Theaterversion ebenfalls übernommen hat. So beginnt das Stück mit einem Grafen, der Ulenspiegel im Zurmarshausener Kloster sucht, erzählt dann erst von der Kindheit, streut danach immer wieder Episoden um Elisabeth Stuart und ihren Winterkönig ein, greift dann wieder zurück auf die Ausbildungszeit bei Pirmin, um sodann Athanasius Kirchers Drachensuche zu zeigen und endet, nach einer Sequenz im Schacht unter Brünn, bei den Friedensverhandlungen in Westfalen.

Eine Lüge wäre es, würden wir behaupten, ein gewisses Verständnis oder wenigstens Interesse an historischen Persönlichkeiten und Ereignissen, wären nicht vonnöten, will man sowohl Kehlmanns literarischer Vorlage als auch Julian Pörksens (Dramaturgie) und Stefan Bachmanns (Regie) Bühnenversion folgen. Und dennoch lohnt sich der Besuch bereits für jeden Bühnenbild- und Technikfeinschmecker.

Kurzerhand flutete nämlich Bühnenbildner Olaf Altman nahezu die gesamte Spielfläche des Depot 1 wadentief mit Wasser. Gemeinsam mit Hartmut Litzingers Licht, das selten, wie üblich und bekannt, von vorne, und häufig aus den Gassen sowie durch das Wasserbecken auf die Schauspieler hoch scheint, nie in Farbe, immer nur kalt, und Musiker Matti Gajeks akustisch nicht so recht zu definierender, mal ruhig wabernden, mal heftig wummernden Klangwolke, entsteht allein visuell und akustisch schon ein unangenehmes, kaltes, düsteres und bedrückendes Gefühl, das die Schauspieler*innen in ihrer Arbeit gekonnt aufnehmen.

Da der Roman bereits eine unübersichtliche Vielzahl an Charakteren aufweist, muss auch die Theaterversion eine vielfältige Bandbreite an Figuren abdecken. So ist es umso erstaunlicher, dass das Ensemble fast vierzig Rollen verkörpert und uns beim Schlussapplaus nicht schlecht staunen lässt, als wir, abzüglich der Statisterie, lediglich elf Schauspieler*innen zählen, auf die wir im Rahmen dieser Rezension leider nicht in der Gesamtheit eingehen können.

Überraschend angenehm fanden wir die Arbeit von Tyll-Darsteller Peter Miklusz. Dass Miklusz ein Mann für das Wahnsinnige auf der Bühne ist, wissen wir bereits, seitdem er uns in Hamlet begeisterte. Auch den Tyll, den seit den grausigen Erlebnissen seiner Kindheit vermutlich einige Traumata begleiten, stellt der Schauspieler überzeugend mit viel Mimik und Körperlichkeit dar, macht es uns mit seiner Art, hier mal eindringlich, da mal einfühlsam unter die Haut gehend zu sprechen, schwer, den Charakter Tyll einzuordnen und zu verstehen. Dennoch prescht Miklusz nie vor, drängt sich nicht in die erste Reihe, macht aus seinem Tyll das, was vermutlich auch Kehlmann in seinem Roman erreichen wollte: Er schafft einen Beobachter, der stets für den treffenden bissigen Gaukler-Kommentar zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein scheint und sich so in die ausführliche Palette der anderen Rollen dieses Kriegspanoramas wohlig passend eingliedert. Simon Kirsch bleibt besonders als Athanasius Kircher im Gedächtnis. In der Vorbereitung auf die Rolle scheint Kircher die gesamte Überheblichkeit der Jesuiten aufgesogen zu haben, um sie dem Zuschauer in der Rolle dieses Gelehrten auf einem hochglänzenden Silbertablett zu servieren. Trotz der Verantwortlichkeit für den Tod von Tylls Vater packt uns Kircher wortgewandt immer wieder auf einer gewissen Sympathieebene. Jörg Ratjen bring zuerst als Hobbyhexer Claus Uhlenspiegel und später als überzeugt siegessicher über die Bühne schwimmender Gustaf Adolf von Schweden eine erfrischende Wandelbarkeit mit und Kristin Steffen, die wir seit Romeo und Julia sowieso bereits in unser Künstlerherz geschlossen haben, ist als Nele für uns der Ruhepol der Inszenierung, vorlagenbedingt allerdings leider viel zu wenig im Fokus. Marek Harloff, als zweiter Hexenjäger Dr. Oswald Tesimond noch etwas schwach auf der Brust, spielte sich als verweichlichter und fast schon bemitleidenswerter Winterkönig Friedrich V. an der Seite von Melanie Kretschmann in die Herzen der Zuschauer, ging aber neben der geballten Frauenpower von Kretschmanns Elisabeth Stuart hin und wieder – Wortwitz, wegen der Bühne – baden.

Tyll
Foto: Tommy Hetzel; Auf dem Bild: Melanie Kretschmann, Marek Harloff und Peter Miklusz

Was alle Darsteller*innen stets schafften, und das ist eine Eigenart, die wir im Schauspiel Köln oft und gerne beobachten: Sie sind stets präsent und füllen, auch monologisierend und allein auf der Spielfläche, den gesamten Raum. Man sieht ihnen gern zu und klebt ihnen an den Lippen. Sie fügen sich, mit Blick auf Tyll in das visuelle und akustische Gesamtkonzept und bringen uns, auch dank der eindrucksvollen Kostüme von Jana Findeklee und Joki Tewes, das fast vierhundert Jahre vergangene Kriegsgrauen zurück und hinterlassen bei der Reflektion des Gesehenen einen faden Beigeschmack.

Und so stört uns das Gewand der Romaninszenierung nicht. Die Schauspieler*innen sprechen die Erzählerpassagen teilweise sogar währen der eigenen Handlung selbst aus und umschiffen somit das eigentlich hierfür typische Erzählen über etwas. Zwar startet das Stück in seiner ersten Szene ebenfalls mit Ines Marie Westernströer als Erzählerin am Mikrophon, doch wird dieser Ansatz hiernach sofort ad acta gelegt, indem Westernströer das Mikrophon einpackt und mit hinter die Bühne nimmt, als wolle sie uns sagen: So Leute, jetzt zeigen wir euch mal, wie man einen Roman richtig auf die Bühne bringt. Dennoch: Wortgewaltig ist Tyll natürlich. Und trotzdem wollen wir es wagen, die Behauptung aufzustellen, dass auch jene Theatergänger, die eher auf wortkarge Inszenierungen stehen, an Tyll ihren Spaß haben werden. Klar: Es wird ein komplizierter Stoff bearbeitet, selbst gestandene Historiker müssen bei der Herleitung des Dreißigjährigen Krieges immer wieder mal in die Bücher schauen, vieles ist politisch und historisch verwoben, man kann nicht immer folgen, verliert sich schnell im Gewusel um die vielen Orte, Parteien und Personen und am Ende können auch wir der Inszenierung die eine oder andere Länge diagnostizieren, die entsteht, wenn alle politischen Verwobenheiten auseinandergeknotet werden. Doch ist diese Handhabe für das große Ganze der Darstellung unvermeidbar. Seinen Zauber bekommt Tyll durch das Miteinander aller theatralen Elemente, die ausgeglichen daherkommen. Das Bühnenbild ist bombastisch einprägsam, spielt sich aber dennoch nicht in den Vordergrund und stiehlt den Beteiligten somit nie die Show. Diese wiederum achten als Ensemble auf sich und spielen angenehm mit- und nicht gegeneinander und sind stets in ein ästhetisch sehr angenehmes Setting aus sich im Wasser spiegelnden und brechenden Licht und irgendwie omnipräsenten Sound gerückt. Und eben wegen dieser Ausgewogenheit der Elemente, so esoterisch wollen wir klingen, ist das Gesamtpaket ein Stück, das man sich gerne ansieht und in dem auch vier Stunden noch sowas sind wie Kurzweil.

Somit hat Tyll aus unserer Sicht alles richtig gemacht. Zwar ist der Dreißigjährige Krieg lang vergangen, das Prinzip einer gewaltsamen Auseinandersetzung darüber, wer denn nun dem besseren Glauben folgt, wer den cooleren unsichtbaren Kumpel hat, ist leider auch heute noch allgegenwärtig. Daniel Kehlmann, Regisseur Stefan Bachmann und das gesamte Team des Kölner Schauspiels lassen uns mit Tyll bis tief in die Knochen spüren, wie verheerend ein fanatischer Glaube an etwas oder jemanden eskalieren kann und bieten uns ein breites Psychogramm des Menschen in seiner Primitivität, dem anderen, notfalls mit Gewalt, das aufzudrängen, was er selbst für richtig handelt. Ein ewig währendes, uns Menschen leider fast schon charakterisierendes Merkmal, das seine Ausprägung nicht nur im Dreißigjährigen Krieg zeigt, sondern eigentlich in jedem noch so unsinnigen Konflikt unserer Geschichte und der Gegenwart. Und wie funktioniert das besser, als aus der Sicht eines Gauklers, der bereits im Mittelalter das Recht hatte, die Obrigkeit ohne Konsequenzen bloßzustellen und das auszusprechen, was viele dachten. Auch Tyll wird das Problem des stets von sich und wirklich nur von sich überzeugten Menschen nicht lösen können, bleibt aber ob der fulminanten Inszenierung auf visueller, akustischer sowie schauspielerischer Ebene lange im Gedächtnis, setzt vielleicht auch theatral neue Maßstäbe und regt zu langen, tiefgründigen Diskussionen an.

Wie eingangs bereits erwähnt, sind wir mit unserer Rezension vergleichsweise spät dran. Tyll wird nicht mehr so häufig gespielt, taucht aber hin und wieder noch einmal im Kalender des Schauspiel Köln auf. So empfehlen wir einen Besuch der Website, die aktuell zwei neue Vorstellungen aufweist, den 15. März sowie den 19. April 2020 und sind gespannt, was ihr haltet, von dieser ersten Romanbearbeitung, die uns voll und ganz begeistert hat.


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