Heimgesucht – Gespräche mit Theatermachern in Zeiten von Corona, Teil IV

Text: Werner Alderath (werner.alderath@theaterwg.de)
Beitragsbild: v.l. Caroline Weber, Sophie Isermann, Lisa Neumaier, Leonie Reiss (Bild: Rafael Hamberger)

Stellen wir uns folgendes vor und schließen dabei die Augen…oder Sekunde, dann kann man hier gar nicht weiterlesen, also die Fantasie lieber mit geöffneten Augen anregen: Im Hintergrund läuft leise klassische Musik, vielleicht der Frühling aus Vivaldis Vier Jahreszeiten oder aber An der schönen blauen Donau von Johann Strauss, dazu eine Kamerafahrt aus der Vogelperspektive über Wien. Bilder schießen einem durch den Kopf: der Prater, die Hofburg Wien, die Wiener Staatsoper, die Kaiserliche Schatzkammer, Theater, Kultur, Kunst, Musik. Die Assoziationen mit Wien könnten noch seitenweise weitergehen. Fakt ist: Wien macht Kunst und Kultur lebendig. Wundervoll, nicht? Doch die Nachrichten der letzten Wochen gehen auch an Kunst und Kultur in Österreich nicht vorbei. Geschlossene Grenzen, Ausgangssperren, keine Gastronomie, kein Theater, kein Tourismus.

Und mittendrin in dieser Situation: das ALICE Ensemble, eine Theatergruppe, nur aus Frauen bestehend, sehr lebensfroh, offen, sympathisch, motiviert und eigentlich gerade mit ihrem neuesten Stück Romeo & Julia – WTF ?! unterwegs. Doch der Lockdown zwingt die vier Frauen zurückzustecken, die Arbeit der vergangenen Wochen muss zunächst ruhen. Allerdings lässt dies die vier nicht zurückschrecken, sie arbeiten an neuen Projekten und lernen mit der neuen Situation umzugehen. So sagen wir: Herzlich Willkommen zu unserem vierten Teil von heimgesucht!

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Anders als bei den vergangenen Gesprächen, fand das Gespräch dieses Mal mit dem gesamten Ensemble statt. Wie man sehen kann, hatten wir während des Gesprächs viel Spaß. (Bild: privat)

Anders als in den vorherigen Teilen traf ich dieses Mal zwar auch mehrere Personen, doch alle gehören einem Ensemble an: Im November 2015 wurde das ALICE Ensemble gegründet, mit dem Ziel mehr Frauen ins Theater zu bringen. Damit ist nicht gemeint mehr Zuschauerinnen zu haben, sondern mehr Frauen auf die Bühne zu bringen. Denn, so ehrlich muss man sein, wie an vielen Stellen im Theater noch üblich, werden eher Männer, teilweise sogar in Frauenrollen, besetzt. Was im Elisabethanischen Theater noch gang und gäbe war, auch dank Masken und Kostümen, ist heute, rund 400 Jahre später, ein No-Go. Es mag (ästhetische) Gründe geben, eine Besetzung so vorzunehmen, doch viel seltener trifft man das Phänomen umgekehrt an: Dass Frauen in Männerrollen besetzt werden (von uns zuletzt gesehen in der Antigone-Inszenierung der niederländischen Regisseurin Liesbeth Coltof am Jungen Schauspielhaus Düsseldorf). Selbst hat das Ensemble eine solche Umbesetzung in ihrer Produktion Penthesilea – Sex, War & Wonderbras, nach der Vorlage von Heinrich von Kleist, vorgenommen. Viele Zuschauer seien zunächst skeptisch, denken man müsse unbedingt sehr männliche Kostüme verwenden oder sich als Darstellerin verstellen. Nach den Aufführungen seien die Zuschauer positiv überrascht und berichten oft, dass sie es gar nicht mehr so wahrgenommen haben. „Man soll sich gerade im Kunstbereich nicht so einschränken. Es ist wurscht.“, fasst Lisa Neumaier das Thema mit einem Lächeln zusammen. Genau hier möchten die jungen Frauen ansetzen. Ihr festes Ensemble ist rein weiblich besetzt. Für weitere Rollen werden auch Castings organisiert, meist wird auch hier gezielt nach Frauen gesucht. Doch ganz ohne Männer arbeiten sie dann doch nicht. Für ihr Krimidinner Mord in Carnuntum wurde auch eine männliche Rolle besetzt. Und auch hinter den Kulissen werkeln einige männliche Mitstreiter mit. Gerade während den Anfängen des Ensembles führte dies oft zu Verwirrungen bei den Theatern: „Man hat eher mit unseren Technikern gesprochen als mit uns, obwohl wir die Chefinnen sind.“, berichtet Leonie Reiss. Inzwischen habe sich dies aber gelegt, auch weil das ALICE Ensemble inzwischen in vielen Teilen Österreichs bekannt ist: Wien, Steiermark und Tirol sind regelmäßige Spielstationen, doch weitere Bundesländer sollen folgen. Allerdings soll der Support für mehr Frauen auf der Bühne nicht nur im eigenen Ensemble stattfinden. Als ausgebildete Schauspielerinnen haben die vier bereits viel Erfahrung bei Vorsprechen, durch ihr Schauspielstudium oder durch Arbeiten am Theater gesammelt. Diese Erfahrungen teilen sie selbst gerne immer wieder, sei es bei Netzwerktreffen oder Fortbildungen.

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„Man soll sich gerade im Kunstbereich nicht so einschränken. […]“, findet Lisa Neumaier, in Bezug auf Besetzung von Frauen, aber auch Rollen im Allgemeinen. (Bild: Andrea Peller)

Neben Lisa Neumaier und Leonie Reiss gehören zwei weitere Mitglieder zum festen Ensemble: Caroline Weber und Sophie Isermann. Kennengelernt haben sich die vier während ihrer Schauspielausbildung an der filmacademy in Wien. Denise Neckam, Astrid Nowak, Jana Thomaschütz, Ronja Forcher und Iris Schmid sind fünf weitere Mitglieder im Ensemble, die aber nicht ständig dabei sind, sondern je nach Produktion und Anforderungen in die Arbeit mit einsteigen. Übrigens entwickelt das Ensemble seine Produktionen selbst. Sie schreiben die Texte oder bearbeiten die entsprechenden Vorlagen. An Ideen mangelt es der Gruppe nicht, denn neben Theatern, die sie sich oft mieten müssen, haben sie ihre Produktionen auch schon in Wohnzimmern gespielt. Alles deutlich reduzierter, doch für die vier eine Erfahrung, die sie gerne wieder machen möchten, da das Feedback der Zuschauenden unmittelbar folgt. Doch ihre Bühne suchen sie üblicherweise in Theatern. Einen festen Sitz hat die Gruppe nicht: „Das ist ein wunder Punkt.“ lächelt Lisa, doch die Sorge begleitet die Gruppe ständig. Für aufwendigere Proben mietet sich das Ensemble gelegentlich Räumlichkeiten, für ihre regelmäßigen Proben steht ihnen ein Raum zur Verfügung, der nicht ideal, aber für eine Stückentwicklung ausreichend ist. Auch bei der Miete von Theatern sind die Probenzeiten oft sehr eingeschränkt, doch die vier kommen gut zurecht damit. Für ihre neueste Produktion hatten sie sogar eine Kooperation mit einem Theater erzielt, doch diese liegt, wie vieles andere im Kulturbereich, aktuell auf Eis.

Dass der Kulturbereich auf Eis liegt, ist das eine, dass die Kultur in Österreich regelrecht im Stich gelassen wurde, das andere, wie Caroline Weber erzählt. Dem ein oder anderen Leser aus Deutschland mag diese Situation bekannt vorkommen, denn auch hierzulande steht die Wirtschaft zunächst im Fokus, die großen und mittelständischen Betriebe, auch wenn man nicht außer acht lassen sollte, dass laut Monitoringbericht Kultur- und Kreativwirtschaft 2018 des Bundes die Kultur- und Kreativwirtschaft rund 3,1% zum deutschen BIP 2018 beigetragen hat und damit der zweitstärkste Bereich nach der Automobilbranche war. Ulrike Lunacek (Die Grüne), ehemalige österreichische Kulturstaatssekretärin, hat deshalb bereits ihren Posten geräumt, denn der Unmut bei den Kulturschaffenden in Österreich stieg zunehmends. Andrea Mayer (parteilos) ist ihre Nachfolgerin, sie gilt für die Kulturschaffenden als Hoffnungsschimmer. „Sie wissen nicht, was sie sagen sollen.“, fasst Leonie die Lage zusammen. „Kunst ist meiner Meinung nach systemrelevant.“ Eine Meinung, die wir voll und ganz unterstützen, denn es gilt nicht nur die Kultur als solche zu sehen, sondern auch die wirtschaftliche Stärke dahinter: die Techniker, Regisseure, Darsteller, aber auch Musiker, Autoren oder Museumsbetreiber, wenn alle diese Menschen ihre Jobs verlieren, dann liegt nicht nur die kulturelle Landschaft (nicht nur Theater, sondern auch die Buch-, Film- und Musikbranche!) brach, sondern dann geht auch eine enorme Kaufkraft verloren.

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„Kunst ist meiner Meinung nach systemrelevant.“, findet Leonie Reiss, doch sie sieht leider auch, dass die Branche während der Corona-Krise oft im Stich gelassen wurde. (Bild: Andrea Peller)

Doch wie gehen die vier mit dem Lockdown um? Lisa berichtet sehr ehrlich, dass sie zunächst froh war, denn der Lockdown habe viel Druck herausgenommen, doch schnell wurde sie krank. Inzwischen habe sie sich gut erholt und mit der Situation abgefunden. Neben dem ALICE Ensemble arbeitet Lisa im Eventmanagement, befindet sich dort aber auch in Kurzarbeit. Stattdessen hat sie sich professionelles Equipment angeschafft und übernimmt nun einige Sprecherjobs von zu Hause. Für Lisa ist es in der momentanen Situation wichtig sich Fixtermine zu schaffen, um einen geregelten Tagesablauf beizubehalten. So treffe sie sich regelmäßig online mit einer Freundin und ihrer Mutter um 07:30 Uhr zum Pilates, dafür nehme sie auch das frühe Aufstehen in Kauf. Caroline arbeitet zusätzlich noch als Personal Trainerin, denn als ehemalige Gymnastin, die sich sogar 2008 und 2012 für Olympia qualifizierte, weiß sie sehr gut Leute zu beraten, bzw. sie im sportlichen Sinne anzuleiten. Leonie schon vor Corona eine neue Sprache gelernt, konnte den Fokus aber nun etwas intensivieren. Sie hat es sehr stark getroffen, dass alle Veranstaltungen ausfallen: „Als es dann hieß, dass wieder Veranstaltungen mit bis zu 250 Personen stattfinden dürfen, dachte ich der Theatersommer ist gerettet, doch der Blick in die Auflagen zeigt, dass sich diese Zahl nur gut anhört, in der Realität aber kaum umzusetzen ist.“, berichtet Leonie enttäuscht. Auch für Leonie sind Fixtermine wichtig, um das Beste aus der aktuellen Situation zu machen. So hat sie beispielsweise aktuell jeden Montag um 18 Uhr ihren Spanischkurs. Sophie berichtet, dass sie und das Ensemble sogar noch Hoffnung hatten, dass ihre neue Produktion starten kann: „Das Theater, mit dem wir kooperieren, war so hoffnungsvoll.“, schildert sie. Doch dann kam der Lockdown. Sophie arbeitet auch an einer Tanzschule, jedoch finden aktuell nahezu keine Kurse oder Veranstaltungen statt. Als Alternativprogramm hat sich Sophie ihrer Nähmaschine gewidmet. „Wenn man die Zeit hat, sollte man sie sich auch nehmen. Gerade für Kunst- und Kulturschaffende ist es wichtig produktiv zu bleiben.“, ergänzt Sophie.

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„Das ist etwas Positives, dass der Blick der Politik nun verstärkt auf die Kultur und Literatur gerichtet wird.“, findet Caroline Weber, die hofft, dass dieser Effekt auch nach dem Lockdown weiter anhält. (Bild: Andrea Peller)

Trotz aller Widrigkeiten können die vier der aktuellen Situation auch etwas Positives abgewinnen. Neben einem nahezu freien Terminkalender hat sie die Corona-Zeit als Ensemble mehr zusammengeschweißt. „Wir machen sonst alles zusammen.“, bestätigt mir Caroline. So ist auch die Idee entstanden ein Online-Theaterstück zu inszenieren. Tödlicher Lockdown heißt die Eigenproduktion des Ensembles, die kürzlich online zu sehen war. Eine gemeinsame Freundin wurde ermordet und die Täterin scheint sich unter den vier Darstellerinnen zu verstecken. Per Zoom-Meeting haben sie nicht nur die Produktion in regelmäßigen Treffen geprobt und geplant, sondern letzten Endes auch darüber präsentiert. Die Resonanz in den sozialen Medien zu diesem Experiment ist sehr positiv. Für die Kulturbranche hofft Caroline auf einen nachhaltigen Effekt: „Das ist etwas Positives, dass der Blick der Politik nun verstärkt auf die Kultur und Literatur gerichtet wird.“ Für alle Beteiligten bleibt zu hoffen, dass es nicht bei einer Momentaufnahme bleibt, sondern auch einen nachhaltigen Effekt haben wird. Als weiteren positiven Effekt sieht das Ensemble die Möglichkeit sich aktuell verstärkt zu vernetzen, auch länderübergreifend, wie in unserem Fall.

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„Gerade für Kunst- und Kulturschaffende ist es wichtig produktiv zu bleiben.“, unterstreicht Sophie Isermann, denn in der jetzigen Situation untätig zu bleiben, wäre für die eigene Motivation schädlich (Bild: Andrea Peller)

Wer nun mehr Lust auf mehr ALICE bekommen hat, dem sei die Homepage, der Instagram-Account oder auch die Facebook-Seite des Ensembles ans Herz gelegt. Neben aktuellen Ereignissen werden auch regelmäßig kurze Clips oder Fotos gepostet, die einen Einblick in die Arbeit des Ensembles geben.

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Das ALICE Ensemble aus Wien hat mich schwer beeindruckt, die vier Frauen lassen sich Vieles einfallen und sind sehr fleißig. Man kann ihnen nur gönnen, dass sie bald wieder die Bühnen Österreichs bespielen dürfen! (Bild: Andrea Peller)

Am Ende unseres mehr als einstündigen Gesprächs bin ich überwältigt von so viel Energie und Zusammenhalt. Zurecht kann man die vier jungen Frauen als Powerfrauen bezeichnen, denn auch in diesen schwierigen Zeiten schaffen sie es eine positive Art auszustrahlen. Und für sie bedeutet die aktuelle Situation auch nicht das Ende der Welt: „Unsere Produktion Romeo & Julia – WTF ?! ist nicht abgesagt, sondern wird auf Herbst verschoben! 🙂 Termine folgen! Bleibt gesund und haltet durch, damit wir uns alle wohlauf im Herbst wiedersehen können!“, heißt es auf der ALICE Homepage. Was bleibt ist die Hoffnung, auf bald wieder einkehrende Normalität. Um diesen Optimismus zu unterstreichen wird verabredet in naher Zukunft auch das Ensemble in Wien zu besuchen, verbunden mit einem Vorstellungsbesuch. Ein Termin, auf den ich mich persönlich schon jetzt freue, auch wenn das genaue Datum noch in den Sternen steht. In jedem Fall wünsche ich dem ALICE Ensemble, dass es bald wieder spielen kann und den vier Mitgliedern, dass sie auch bald wieder ihren Tätigkeiten nachgehen können.


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