Ein fetter Felsbrocken, groß wie’n Haus – Das Analogtheater zeigt GEISTER UNGESEHEN

Foto: Daniel Burgmüller
Text: Marius Panitz (marius.panitz@theaterwg.de)

Kennt ihr Demmin? Dieses knapp 10.000 Seelen zählende Kleinstädtchen in Mecklenburg-Vorpommern? Vielleicht aus der Presse, wenn wieder Artikel darüber geschrieben werden, dass sich hier Nazis von der NPD aufgerufen am 8. Mai zum Trauermarsch versammeln und ihren Kummer darüber inszenieren, dass Deutschland den Zweiten Weltkrieg verloren hat? Oder aus den Geschichtsbüchern, in denen die Rede von den Massensuiziden ist, welche über eintausend Bürger*innen der Stadt zwischen dem 30. April und dem 8. Mai 1945 aus Angst vor der vorrückenden Roten Armee begingen? Oder vielleicht aus Martin Farkas‘ Dokumentation Über Leben in Demmin aus dem Jahr 2017, die versucht, dieses Thema historisch aufzuarbeiten, eine Arbeit, die jahrzehntelang, besonders zu DDR-Zeiten, nicht geleistet wurde? 

„Stellt euch mal nen Felsbrocken vor, ja? Nen Felsbrocken, nen dicken, fetten Felsbrocken, groß wie’n Haus, Millionen von Kilos, und der schwebt über euch und ihr, ihr steht drunter“. 

Mit dieser Metapher beginnt die Performance Geister Ungesehen des Kölner Analogtheaters in der Regie von Daniel Schüßler, welche Teil einer Performance-Reihe ist, die die Gruppe „Fiktionale Biopics“ nennt und in welcher sie dieses Mal die Biografie einer ganzen Stadt auf eine Bühnenperformance zu verdichten versucht. Wer sich bereits im Vorhinein ein wenig über das Stück informiert hat, geht sogleich mit einem etwas mulmigen Gefühl hin. Der Massenselbstmord in Demmin ist harter Tobak und man weiß, dass Stücke, die auf solch emotional aufgeladenen historischen Ereignissen beruhen, schnell nach hinten losgehen können, wenn man die Themen nicht mit dem nötigen Respekt behandelt. Ob das Analogtheater also mit seiner Performance Geister Ungesehen den richtigen Weg gegangen ist? Wir haben es uns angesehen. 

Bei Betreten des Theatersaals ist uns unbehaglich zumute. Zum einen, weil wir nicht wissen, inwiefern wir gleich emotional überreizt werden, zum anderen, weil dies die erste Theateraufführung ist, die wir im Rahmen der strengen Corona-Hygieneregelungen erfahren dürfen. Die Studiobühne Köln begrenzt die Zuschauerzahlen auf 25 Personen pro Vorstellung, in jeder Reihe sitzen, getrennt vom Mittelgang, jeweils zwei Zuschauer*innen. Ganz unfreiwillig unterstützt diese Isoliertheit also dieses blümerante Gefühl, das in der Luft liegt. 

Der Blick auf die Bühne offenbart über der Spielfläche nebeneinander zwei rechteckige Projektionsflächen. Auf dem Boden eine riesige Stoffröhre mit menschenhohem Durchmesser, welche diagonal liegt und ebenfalls von einer Projektion angestrahlt wird. 

v.l.n.r.: Ingmar Skrinjar, Lara Pietjou, Dorothea Förtsch, Foto: Pramudiya

Nachdem die anfangs zitierte Metapher uns bereits darauf eingestimmt hat, dass es um etwas gehen wird, das uns ein Leben lang belasten kann und uns mit der Angst versieht, jederzeit auf uns herunterzubrechen, beginnen die drei Performer*innen Dorothea Förtsch, Lara Pietjou und Ingmar Skrinjar in ihrer Einführung damit, uns Demmin vorzustellen, seine Geschichte, aber auch seine Geografie. Untermalt werden die drei Künstler*innen in ihrem Sprechen von Videoinstallationen von Thomas Vella, welche Demmin und seine ländliche Umgebung zeigen sowie immer wieder eine Gruppe von Menschen, die sich durch diese schier unendliche Natur, wie in Trance, nahezu geisterhaft, bewegt, begleitet von einem fast durchgehenden, schweren und bedrückenden Soundtrack von Ben Lauber, welcher uns eindringlich bis ins Mark wummert und die poetische Sprache des Stückes imposant verstärkt.

Wenn wir sagen, das Analogtheater macht mit seiner Produktion Geister Ungesehen alles richtig, ist das vielleicht eine steile These. Allerdings eine solche These, hinter der wir sehr gern stehen und welche wir auch begründen können. 

Daniel Schüßler und seinem Team gelingt es nämlich in Geister Ungesehen, auf perfekt ausbalancierte Weise, Brücken zu schlagen zwischen Geschichte und ihrer Didaktik, der Kraft des Theaters und der Performance sowie bestechlicher Filmkunst. Sie garnieren dies mit einer unter die Haut gehenden, poetischen Sprache, die nicht künstlich auf die Tränendrüse drückt und in ihren Sätzen und Satzfragmenten immer ehrlich ist, nahbar und nie kitschig und Demmin und seiner Geschichte so eine würdige Stimme gibt. 

Schnell wird klar: Der Felsbrocken, der über uns schwebt, ist ein Trauma. Konkret wird es bei Geister Ungesehen zu einem Kriegstrauma. Und doch wird Demmins Vergangenheit immer nur angedeutet, man verzichtet darauf, zu viel historisches Material zu zitieren, sodass die Performance nie zu dokumentarisch überladen wirkt. 

Besonderes Aufsehen erregt es, wenn die drei Darsteller*innen unter den Projektionen ihrer privaten Namen, in der oben beschriebenen Röhre stehend, persönliche Geschichten über ihre Eltern und Großeltern erzählen und uns somit ihre ganz eigenen Geister erfahrbar machen. Visuell unterstützt das Bühnenbild sie dabei sehr eindrucksvoll, wirkt die Röhre doch irgendwie wie ein Portal aus der Vergangenheit, aus welchem sie zu uns sprechen. Sie machen deutlich, dass diese Geister überall, nicht nur in Demmin, zu suchen und zu finden sind. Gerade hierdurch wird indirekt an uns Zuschauer*innen appelliert, uns mit der Frage auseinander zu setzen, was wir persönlich tun können, damit dieses Trauma, dieser Felsbrocken, der über uns schwebt, nicht größer wird und irgendwann einmal auf uns herunterkracht. Denn mit Gewissheit kann gesagt werden, dass nicht jede*r weiß, was sein oder ihr (Ur-)Großvater ab 1933 gemacht hat und so manche*r sich aus Angst vor traurigen Wahrheiten auch nicht traut, dies in Erfahrung zu bringen. 

Dorothea Förtsch, Foto: Pramudiya

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass wir Deutsche traumatisiert sind von unserer Geschichte. Die einen wollen diese Zeit für immer begraben und vergessen, die anderen stürmen mit Reichsflaggen die Treppen des Bundestagsgebäudes und wünschen sich genau diese Vergangenheit zurück. Geschichte muss, weit über den schulischen Geschichtsunterricht hinaus, aufgearbeitet, verstanden und stets in unserer Erinnerung verankert werden. Geister Ungesehen zeigt uns einen Weg, gibt den Geistern der Vergangenheit eine Stimme und mahnt zur historischen Aufarbeitung, die bei vielen Menschen in Deutschland noch immer nicht zu Genüge abgeschlossen ist. 

„Man kann nicht immer mit dieser Katastrophe leben“ heißt es da. Ein Satz, an dem sich die Geister scheiden. Natürlich müssen wir unsere historischen Traumata überwinden, aber wir dürfen sie nicht vergessen, denn wir müssen aus ihnen lernen. Wir sind lange nicht mehr die Generation der Täter*innen, tragen selbst keine Schuld. Schuldig sind wir nur, wenn wir nicht verhindern, dass sich diese Geschichte wiederholt. 

Und hierfür gibt Geister Ungesehen einen inspirierenden Ansatz, mit den Geistern der Geschichte ins Gespräch zu kommen und jeden Tag aufs Neue dafür einzustehen, dass sich so etwas wie der Massensuizid in Demmin nie wiederholen wird. Aber nicht, wie man hier erwarten könnte, mit einem moralinsauren Hammerschlag endet die Performance, sondern mit einer sympathischen Rede einer Darstellerin, die vorschlägt, Demmin bunt einzustricken, ein Bezug zum tatsächlich vor Ort durchgeführten Protest gegen die Nazi-Aufmärsche in Form von „Guerilla-Strickkunst“, wovon wir Zuschauer*innen übrigens am Geländer der Tribüne ein Exempel erblicken. Sichtlich energisch monologisiert die Darstellerin nämlich, dass sie sich ihre Farben nicht wegnehmen lassen will, sie auch die Farbe braun mag und nicht will, dass Rechte sich diese vereinnahmen. 

Nach knapp einer Stunde endet Geister Ungesehen, ein visuelles, akustisches und sprachliches Konglomerat an wirkungsvollen Eindrücken, das, ohne zu pathetisch oder zu überladen zu wirken, seinen Zweck beim Publikum erfüllt hat. Jede*r Zuschauer*in wurde auf den eigenen Felsbrocken aufmerksam gemacht, der über ihm oder ihr schwebt. Und nun liegt es an ihnen, sich täglich dieses Brockens zu erinnern. 

Wer nun neugierig geworden ist, der muss vorerst ein wenig vertröstet werden. Geister Ungesehen ist für dieses Jahr bereits abgespielt. Allerdings empfiehlt es sich, die Websites der Studiobühne sowie des Analogtheaters im Auge zu behalten, da bereits jetzt angekündigt ist, dass die Performance im Frühjahr 2021 auf die Studiobühne zurückkehren wird. 


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