Hörspiel versus Stadt – Ein persönlicher Erfahrungsbericht zu CASCANDO des Pan Pan Theatre

Titelbild: Matthew Andrews
Text: Marius Panitz (marius.panitz@theaterwg.de)

Ein Spiel mit offenen Karten vorweg: Wir sind nicht so sehr verbunden mit Samuel Beckett, seinen Texten und seiner textlichen Verknappung und dem Weglassen, generell mit dem absurden Theater. Auch mit so mancher Performance tun wir uns schwer, weil wir immer so gerne verstehen wollen und deuten und analysieren, was wohl alles Tiefgründiges dahintersteckt und uns schwertun, uns einfach einmal fallen zu lassen und zu fühlen, was uns umgibt. 

Doch genau das verlangte der Performance-Walk Cascando des Pan Pan Theatre aus Dublin von uns Zuschauer*innen, als wir gestern die Premiere am FFT besuchten. Obwohl: Zuschauer*innen waren wir nicht. Wir waren Teilnehmer*innen, denn, wie beim Walk&Talk von Antje Pfundtner in Gesellschaft, bettet sich Cascando in einen Spaziergang durch Düsseldorf ein. Doch von vorn.

Cascando ist eigentlich ein Hörspiel, das Beckett 1961 schrieb und zwei Jahre später auf dem Sender France Culture zum ersten Mal auf Französisch senden ließ. In diesem Hörspiel begleiten die Hörer*innen die Figuren Opener, Voice, Woburn und Music „auf ihrer Reise in eine ungewisse Zukunft voller Zweifel und Zwänge“, wie es auf der Website des FFT heißt. Weiter steht dort: „Becketts Text handelt von einem Neuanfang, einem Kampf zwischen Agonie und Fortschritt. Wir zögern, aber wir gehen, langsam und gemeinsam. Hören wir nur einen Text? Oder spielen wir auch eine Rolle darin? Wird das Rätsel aufgelöst? Wo kommen wir an? Wenn wir alle am Ende unserer Reise zu unserem Ausgangspunkt zurückkehren, die Stimmen und die Musik in unseren Köpfen verstummt sind, sind wir nicht mehr dieselben.“

Netterweise bietet der Beschreibungstext der Veranstaltung mit seinem Fragenkatalog einen kleinen roten Faden, dessen wir uns in der Rezension gern bedienen. Da man die Performance sehr subjektiv empfindet, wird diese Rezension eher zu einem ganz persönlichen Erfahrungsbericht unseres Autors Marius. Versuchen wir es:

„Hören wir nur einen Text?“ Zuerst einmal nein. Zu Beginn trifft man sich im Foyer der Kammerspiele, welches, nachdem alle Teilnehmer*innen mit schwarzen Umhängen sowie Kopfhörern ausgestattet sind, der Startpunkt für den Walk darstellt, indem wir uns in einer Reihe aufstellen müssen. Es herrscht eine andächtige Stimmung. Das Hörspiel beginnt und mit ihm ein knapp 30-minütiger Spaziergang in schwarzen Roben durch das dämmernde Düsseldorf. Nun sollten wir also doch einen Text hören. Einen Text in englischer Sprache, der geprägt ist durch repetitive Elemente, kurze Sätze, untermalt von Musik von Jimmy Eadie. Wer sich hierfür besonders interessiert, der kann die originale englische Version des Hörspiels aus dem Jahr 1964 hier nachhören. Also hören wir jetzt einen Text? Ich kann als Teilnehmer dieser Performance, der ganz unvoreingenommen hingegangen ist, sagen, dass ich keinen Text hörte. Ihn zumindest nicht wahrnahm. Teil zu sein einer Menschengruppe, die in auffällige Roben gekleidet, hintereinander durch das Zentrum der Landeshauptstadt läuft, wirkt auf den ersten Metern befremdlich, man spürt die Blicke der Passanten, die teilweise stutzen, lachen, die Handys zücken, man kann ihre Gedanken schon fast hören, lauter und deutlicher noch als Becketts Cascando: „Was machen die denn?“, „Ist das’ne Sekte?“, „Oh mein Gott, schnell, mach mal’n Foto!“. Es benötigt einen Moment, dass ich mich in diese Rolle einfinde, die alte Theaterregel, den Mut zur Hässlichkeit zu beweisen, befolge und erhobenen Hauptes diese düstere Tracht trage. 

Foto: Theater WG

„Spielen wir also selbst eine Rolle in diesem Text?“ In der Performance? Vermutlich ja. Irgendwie sind wir Pilger. Doch pilgern wir ohne Ziel. Laufen nur dem Vordermann hinterher. Ich stelle mir die Frage, ob das beim Pilgern so richtig ist. Doch nicht nur wir spielen eine Rolle. Auch die Stadt. Mit ihren Geräuschen und ihrer Infrastruktur, die einfach nicht mit dem Hörspiel vereinbar sind. Die hupenden Autos, die scheppernde Straßenbahn, die sprechenden Passant*innen, Klirren von Geschirr in den Straßencafés. Es ist erstaunlich, wie sehr man den urbanen Raum wahrnimmt, wenn man sich eigentlich auf einen Hörtext fokussieren soll. Ich zwinge meinen Fokus auf die Dame, die vor mir läuft. Ich fokussiere ihre Kutte, ignoriere die Stadt im peripheren Blickfeld, blende alle Störgeräusche aus. Das funktioniert ganz gut. Bis die erste Straße überquert werden muss. Die Gruppe droht, an der Ampel getrennt zu werden. Noch nicht alle Teilnehmer*innen haben die Straße überquert, da schlägt die Ampel um auf rotes Licht. Ein Auto hupt einige der Teilnehmer*innen an, weil sie noch auf der Straße stehen, gewillt, die Reihe einzuhalten. Ich werde aus meinen Gedanken gerissen. Die Umhänge geben plötzlich einen ganz eigenen, uniformierenden Charakter: Ich erkenne die anderen Teilnehmer*innen als Gruppe an, zu der ich gehöre, die in meiner Vorstellung zusammengehört, die nicht getrennt werden darf, weil sie eine Einheit ist. Halten die anderen an? Nein. Verlieren wir die jetzt? Ampel, werd‘ doch endlich grün. Sie wird grün. Wie aufregend. Wir schließen auf, sind wieder eine Reihe. Mist, schon wieder nicht auf den Text gehört. 

„Wird das Rätsel aufgelöst?“ Das weiß ich nicht. Auch, ob es im Hörtext überhaupt ein Rätsel gibt, kann ich nicht mit Gewissheit sagen. Aber in einem kleinen Park, wo der Kaiserteich auf den Schwanenspiegel trifft, wird mir eine Sache bewusst: Dies ist die Umgebung, die wie gemacht ist für das Hörspiel. Hier schnattern Schwäne, hier zwitschern Vögel in der Dämmerung. Hier ist, umgeben vom Grau und Braun der Großstadt, ein kleiner Fleck Natur, ein winziges Bisschen Ruhe vor dem Sturm aus Blech und Beton. Ich möchte hier nicht zum Großstadtlyriker mutieren, stelle aber ganz subjektiv fest, dass diese Performance auf das Land gehört, in die Natur, auf grüne Wiesen und Felder, in Wälder und an das Ufer von Seen und Flüssen. Pressefotos von anderen Spielorten bestätigen das, hier laufen die Teilnehmer*innen durch das Grün, vorbei an Burgruinen, Bäumen und Büschen. Ist die Transformation des Spielorts zur Stadt vielleicht auch nur ein Experiment? Zum ersten Mal gelingt es mir jedenfalls hier in diesem Park wirklich, mich auf den Text einzulassen, mich fallen zu lassen, meine Sorgen davor, von einem Fahrrad oder PKW überrollt zu werden, zu ignorieren. Bis die Gruppe wieder an einer stark befahrenen Straße ankommt. Ich werde von einem einfältigen, jungen Proleten, der den Motor seines vermutlich von Papi geleasten Lamborghini provokant aufheulen lässt, damit alle ihn sehen, während er seinen unreflektierten Spott über uns zu ergießen versucht, wieder herausgerissen. Dies funktioniert. Einige Teilnehmer drehen sich um, schauen beschämt weg, fallen aus ihrer Rolle, unterhalten sich mit den Vor- oder Hintergänger*innen und finden nur schwer wieder zurück. Der Prolet fährt röhrenden Motors weg. Mist, schon wieder habe auch ich mich von der Stadt ablenken lassen. 

„Wo kommen wir an?“ Als das Hörspiel auf unseren Kopfhörern endet, kommen wir jedenfalls noch nicht am Theater an. Mitten in der Stadt verstummen die ruhigen und tiefen Stimmen von Daniel Reardon und Andrew Bennett, die, obwohl ich Schwierigkeiten hatte, mich in den Text einzufühlen, mir die vergangene halbe Stunde einen Rhythmus gegeben haben, ein Tempo. Irgendwie erwache ich hier neu. Schnell tut sich Verwirrung auf. Was sollen wir tun? Kopfhörer ab? Kapuzen runter? Applaus geben? Nein, offensichtlich nicht. Wir gehen zurück zum Theater. Hier geben wir Kopfhörer und Kutten ab und die Performance endet. Niemand sagt mehr etwas. Niemand spendet Applaus, eine Teilnehmerin fragt einen der anwesenden Künstler, ob es das war, was er bejahte und was sie mit einer milden Verabschiedung erwiderte. Die Atmosphäre ist komisch, irgendwie fühlt sich die Performance nicht fertig an. 

Foto: Theater WG

„Wenn wir alle am Ende unserer Reise zu unserem Ausgangspunkt zurückkehren, die Stimmen und die Musik in unseren Köpfen verstummt sind, sind wir nicht mehr dieselben.“ Das kann ich so nicht bestätigen. Ich fühle mich am Ende wie derselbe Marius, der zu Beginn der Performance losgelaufen ist. Andere Teilnehmer*innen können, dürfen oder müssen mir hier gar widersprechen. Ich kann nur für mich reden und sagen, dass dieser Walk wahrhaftig außergewöhnlich ist und mich auch hat Dinge fühlen lassen. Aber vermutlich ging das alles nicht in die intendierte Richtung der Künstler*innen. War das alles vielleicht zu viel? Für mich wäre ein Spaziergang in Kutten durch Düsseldorf bereits Performance genug gewesen. Ich persönlich habe mir angeeignet, mit offenen Augen durch die Welt zu laufen, so viele Dinge wie möglich zu sehen und zu versuchen, auch die kleinen, versteckten Details zu sehen, sodass ich, wenn ich einmal durch eine Großstadt spaziere, diese mit allen Sinnen wahrzunehmen versuche. Diese Eindrücke waren während der gesamten 30 Minuten eine starke Konkurrenz für Becketts Text, dem ich einfach nicht folgen wollte oder konnte. Normalerweise parke ich meinen Körper im Theatersessel, muss mich hier nicht mehr um ihn kümmern, kann mich ganz auf das Wahrnehmen von Musik und Text fokussieren. Doch die immer wieder wechselnden Bilder um mich herum, die hektischen Strukturen der Großstadt, in die ich eintauche und die irgendwie entstehende Gruppendynamik unter den Teilnehmer*innen hindern mich immerwährend an der Immersion in den Text. Zu viele Eindrücke. Vielleicht ist ja das der „struggle to tell a story“, mit dem laut Website des Pan Pan Theatre der Charakter Voice im Hörspiel kämpft. 

Schließlich liegt es aber vermutlich an den Teilnehmer*innen selbst, wie viel Willen und Enthusiasmus sie aufbringen, sich auf all die Impressionen, die die Performance zweifelsohne bietet, einzulassen und an ihren Fähigkeiten, diese gleichsam aufzunehmen. Ich selbst bin daran gescheitert. Beim Buhlen um meine Aufmerksamkeit zwischen Beckett und Düsseldorf, musste ich den irischen Nobelpreisträger nach kurzer Zeit links liegen lassen und den Zauber der Großstadt bewundern. 

Uns interessiert natürlich: Wie habt Ihr die Performance erlebt? Ähnlich? Ganz anders? Hat Beckett Euch gepackt? Oder eher die Großstadt? Glaubt Ihr auch, die Performance gehört in die Natur? Wir betonen nachdrücklich, dass die hier geschilderte Erfahrung ein subjektiver Bericht ist und andere Teilnehmer*innen sicher ganz anders gedacht haben. Daher empfehlen wir dringend, dieses außergewöhnliche Performance-Format zu besuchen und dann gern mit uns in den Diskurs zu treten. Wir freuen uns auf Eure Meinungen. Die Performance gastiert noch bis zum 12. September 2020 am FFT Düsseldorf, Tickets gibt es hier.


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