Titelbild: Marcel Kazenmaier
Text: Marius Panitz (marius.panitz@theaterwg.de)
Die Tänzerin und Choreografin Sarah Kiesecker begegnete uns ganz zufällig, als wir uns Beiträge der Clip-Reihe „Kultur trotz(t) Corona“ des Fernsehsenders 3sat auf Instagram ansahen. Hier sprechen Künstler*innen verschiedenster Richtungen darüber, wie sie es schaffen, den besorgenden Umständen einer nicht systemrelevanten Berufsgruppe im Rahmen der Corona-Pandemie die Stirn zu bieten. Als wir Sarahs Beitrag sahen, war uns klar, dass wir ihren Optimismus und ihre positive Energie, mit der sie dieser Situation begegnet, nicht nur über unsere Insta-Story teilen, sondern diesen inspirierenden Menschen auch einmal etwas näher kennen lernen wollten und so freuten wir uns, dass sie einer Interviewanfrage zusagte.
Das ZOOM-Gespräch mit ihr eröffnete ich sodann mit dem Geständnis, dass es gerade die Kunstform des Tanzes ist, welche mir immer wieder noch Verständnisschwierigkeiten bereitet. Sarah allerdings konnte sofort beschwichtigen: „Natürlich ist es im Theater leichter, mit Sprache eine explizite Aussage zu treffen, aber darum geht es für mich beim Tanzen gar nicht“, leitet Sarah ihr Verständnis von dem an, was sie seit ihrem 16. Lebensjahr auf die Bühne treibt und führt weiter: „Tanz ist sehr divers. Eine Bewegung auf der Bühne kann bei den verschiedensten Menschen die verschiedensten Dinge auslösen“. Und dabei hat sie auch Verständnis für Zuschauer*innen, die vielleicht mit Tanz gar nichts anfangen können: „Man darf Tanz auch komisch finden. Es gibt auch Momente in Tanzstücken, in denen fühlt man sich unwohl, besonders, wenn es sehr körperlich wird. Aber all diese Dinge darf man annehmen. Es ist sehr deutsch, sich dagegen zu wehren, weil man denkt, vielleicht etwas falsch verstehen zu können und sich dann vor anderen damit zu blamieren. Beim Tanz gibt es aber kein Richtig und kein Falsch und es muss auch nicht immer schön sein. Wenn die Zuschauer*innen schon irgendetwas fühlen, haben wir viel herübergebracht, denn Tanz hat für mich viel mit Emotionen zu tun, die wir in unserer Arbeit porträtieren.“ Eine sehr zitierfähige Aussage, die auch mich beruhigt und durchaus nicht nur für den Tanz gilt.

Um ein Haar wären allerdings gar nicht die Tanzstudios und Bühnen Sarahs tägliches Umfeld geworden, sondern Kanzleien und Gerichtssäle: „Meine Mutter hat in einer zeitgenössischen Company getanzt und ich war als Kind häufig im Studio. Mit 16 habe ich dann mit Hip-Hop angefangen und auch sechs Mal die Woche trainiert, dann kamen Salsa und Ballett dazu. Als meine Mitschüler*innen nach dem Abi zum Work&Travel nach Australien geflogen sind, habe ich für mich beschlossen: Ich tanze!“. So zog es sie für sechs Wochen an die Iwanson International School of Contemporary Dance in München, ein Ort, der für sie noch von großer Bedeutung werden sollte. Allerdings war es dieser eine entscheidende Gedanke, der der jungen Sarah irgendwie nie kommen wollte: „Ich weiß gar nicht so genau, was mich damals davon abgehalten hat, zu denken, das beruflich zu machen.“
Tanzen blieb vorerst ein Hobby, beruflich sollte es die Juristerei werden, beides lief parallel: „Ich habe angefangen, in Heidelberg Jura zu studieren, blieb aber in Karlsruhe wohnen, weil hier mein Tanztraining war, das ich nicht aufgeben wollte. Doch irgendwie sollte es das nicht sein. Und so war es eigentlich eine Kurzschlussreaktion, die die Weichen für Sarahs Leben noch einmal neu stellen sollte: „Als ich nach einer blöden Beziehung noch einmal drei Wochen nach München ging, um dort zu tanzen, sprach man mich darauf an, ob ich nicht Lust hätte, dort Tanz zu studieren. Daraufhin habe ich innerhalb von zwei Wochen mein ganzes Leben in Karlsruhe über den Haufen geworfen, bin nach München gezogen und habe dort Tanz studiert. Das waren die drei prägendsten Jahre meines Lebens.“ Und stressig war es auch. Die Iwanson International School of Contemporary Dance ist eine der renommiertesten Tanzschulen Deutschlands, über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus bekannt und für Sarah hätte es keinen tolleren Ort für ihre Ausbildung geben können. Allerdings handelt es sich um eine Privatschule, die Sarah bezahlen musste, also gab sie parallel zu ihrem Vollzeitstudium in München noch Tanzunterricht in Karlsruhe: „Mein Leben zu dieser Zeit war sehr krass. Montags bis freitags studierte ich in München, tanzte dort mindestens acht Stunden am Tag, fuhr freitags zurück nach Karlsruhe, gab freitagabends, samstagmorgens und sonntagabends Tanzunterricht und tanzte dazwischen noch Auftritte, um das Geld für die Schule zu verdienen, um dann sonntagnachts wieder zurück nach München zu fahren.

Von der Theorie bis zur Praxis deckte Sarahs Studium alles ab, was man sich für eine qualifizierte Tanzausbildung vorstellen kann: Neben Basisfächern wie Ballett oder Jazz sind es auch Fächer wie Anatomie, Improvisation, ein Choreo-Lab, Tanzgeschichte oder auch Tanzpädagogik, „weil es heutzutage gut ist, zu wissen, wie man Tanz unterrichtet, da selbst die größten Tänzer*innen irgendwann einmal das Alter erreichen, in dem sie selbst nicht mehr tanzen können“, erklärt Sarah. Besonders schätzte sie während des Studiums den Ansatz, dass ab dem zweiten Studienjahr Gastlehrer*innen von außerhalb die Kurse unterrichten: „Man lernt so viel mehr Stile kennen und gewöhnt sich auch nicht an einen einzigen Lehrer*innentypus. Wer immer von den selben Lehrer*innen unterrichtet wird, gewöhnt sich an ihre Schritte, kann sie selbst vorausahnen. Kommen aber immer wieder neue, frische Stile, bleibt man auch frisch im Kopf.“ So lehrte die Tanzschule Sarah die verschiedensten Fächer und Stile und es wurde für sie zu einer Zeit, die zwar viel von ihr forderte, ihr aber auch sehr viel zurückgab.
Nach den drei Jahren des Studiums, den Abschluss in der Hand, nagten dennoch Selbstzweifel an Sarah: „Ich dachte nach dem Studium, dass ich zu schlecht bin, um das beruflich zu machen. Ich habe überlegt, noch einmal etwas anderes zu studieren.“ Doch dazu kam es nicht, denn die Selbstzweifel wurden immer mehr überlagert von tatsächlichen Anfragen und Aufträgen für Sarah und ihre Jazzaret Dance Company. Zuerst waren es kleinere Projektanfragen, die sich dann allerdings immer weiter häuften, sodass an ein Studium, in Vollzeit oder gar nebenher nicht mehr zu denken war. Nun war der Punkt gekommen, dass Sarah zu sich selbst sagen konnte: „Tanz ist das, was du willst, das, was du gelernt hast und das, was dich wirklich motiviert in deinem Leben. Wieso soll ich mir das verbieten, woran mein Herz so sehr hängt und was mir das Gefühl gibt, daran noch so sehr wachsen zu können?“. Und so ist Sarah täglich dankbar, diesen einen richtigen Weg eingeschlagen zu haben. Auch während unseres Interviews strahlt die Energie, die sie aus ihrem kurz vorher abgehaltenen Tanzunterricht noch gespeichert hatte: „Ich habe gerade drei Stunden am Stück unterrichtet, mein Körper tut weh, aber damit geht es mir gut. Das, was Tanz mit mir macht, dass er mich auf eine gewisse Weise befreit und mir dennoch Sicherheit gibt und mich erdet, das würde ich anderweitig nicht hinbekommen.“
Und dann kam, wie bei so vielen, das Jahr 2020 und alles wurde anders: „Das Jahr 2020 wäre eigentlich das Jahr geworden. Gerade erarbeitete ich mit Eric Gauthier in Stuttgart eine Produktion, für die ich choreografiert und getanzt habe, mit meinen eigenen Tänzer*innen. Außerdem war ich Probenleitung für zwei weitere Stücke von Choreografen, die aus München hier her gekommen sind und habe noch ein Jazzstück gemacht“. Und dann kam er, der erste Lockdown. Und der verwirrte Sarah erst einmal: „So etwas hat unsere Generation noch nie mitbekommen, dass wir plötzlich Dinge nicht machen durften und ich wusste überhaupt nicht, wie ich damit umgehen sollte.“ Der erste Lockdown startete offiziell an einem Montag, für den Sonntag davor war eigentlich noch eine Probe angesagt, die Sarah eine schlaflose Nacht bereitet hat: „Ich wusste nicht, ob ich bereit war, diese Verantwortung zu tragen, dieses Treffen stattfinden zu lassen. Ich wollte nicht, dass jemand auch nur die Angst haben könnte davor, krank zu werden. Am Ende haben wir uns doch dazu entschieden, uns zu treffen und es war eine der schönsten Proben, die wir je hatten.“

Irgendwie schafften wir es dann alle, uns an diese neue Situation zu gewöhnen. Wie bei vielen, war es auch bei Sarah und ihren Tänzer*innen so, dass sie all dem eine optimistische Sichtweise abgewinnen konnten: „Wir dachten zuerst, das dauert jetzt einen Monat, dann kann es weiter gehen. Das Stück musste nur noch synchronisiert und geputzt werden, dann wäre es weitergegangen“. Dass dem nicht so war, realisierte Sarah dann auch immer deutlicher: „Als ich Mitte April meinen Tänzer*innen sagen musste, dass das doch nichts geben wird mit dem Stück, war das für alle schlimm. Da will man Sarah fast schon kassandrische Fähigkeiten unterstellen, dass sie ihr Stück bereits Ende 2019 „Leere / Geregelte Bahnen“ nennen wollte, ein Titel, der unser aller Leben im Jahr 2020 und darüber hinaus irgendwie doch sehr passend unter sich führen könnte. Diese Zeilen schrieb Sarah damals als Stückbeschreibung, ohne zu wissen, wie das kommende Jahr hieraus vielleicht schon sowas machen könnte wie Poesie:
„Wir alle neigen dazu, unsere Leere mit Konstrukten zu befallen. Wir klammern uns an unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit, folgen unseren ‚geregelten Bahnen‘, um ja nichts zu sein, nichts zu wollen. Aber ist Leere wirklich etwas Schlechtes? Sehnen wir uns nach wirklichem emotionalem Hunger, in einer Welt, in der wir ständig und durch alles übersättigt sein können? Was passiert, wenn unsere gewohnten Konstrukte (und seien sie auch nur in unserem Kopf) wegbrechen?“
Im Sommer, als dann alles wieder so langsam öffnete, konnte auch Sarah wieder durchstarten, produzierte ein Video mit dem Tanz Karlsruhe, realisierte neue Projekte mit ihrer Company und produzierte mit ihr ein neues Stück, das am 3. November das Bühnenlicht der Welt erblicken sollte. Sollte. Wäre da nicht der zweite Lockdown am 2. November gewesen, der alles wieder in die Knie zwang. Zurecht waren Sarah und ihre Tänzer*innen niedergeschlagen und zurecht sind sie wütend über diese Entscheidungen der Politik: „Ich sage nicht, dass der Lockdown nicht nötig ist. Es ist für mich nur unverständlich, wieso Kulturschaffende darunter so zu leiden haben. Es gab nachweislich keine Ansteckungen in Kulturbetrieben, weil Hygienekonzepte ausgearbeitet wurden, die wirklich funktioniert haben. Man hat uns nicht nur ein Bein gestellt, sondern uns auch noch in den Dreck geschubst“, macht Sarah stellvertretend für alle Kulturschaffenden ihrem Unmut Luft und weist darauf hin, dass sie hier nicht um Mitleid betteln und auf die Tränendrüse drücken will: „Ich weiß, dass ich im Vergleich zu vielen Kolleg*innen noch in einer privilegierten Situation bin, ich kann online noch Tanzunterricht geben und so mein Grundeinkommen sichern, anderen geht es da viel schlechter“.
Doch sicherlich sind die Online-Tanzstunden, die Sarah bei ZOOM gibt, weit entfernt von dem, was wirklichen Tanz ausmacht: „Man ist dabei sehr unfrei. Ich muss in der Planung schon so viel mehr bedenken. Die Tänzer*innen haben in ihren Wohnungen nicht viel Platz, ihnen fehlt ein geeigneter Tanzboden und es kommt wirklich darauf an, wo bei Ihnen der WLAN-Router steht. Die eine setzt früher ein, die andere später, manchmal ruckelt die Verbindung. Hierbei genau auf Musik zu choreografieren, ist unmöglich, da muss ich von der Präzision absehen, mit der ich sonst immer choreografiere – ‚Macht es einfach irgendwie und habt Spaß dabei‘ ist da das Motto der Online-Stunden“.
Im Moment bleibt Sarah nichts anderes übrig, als jeden Tag zu tanzen. Alleine. Und zu hoffen, dass sich bald wieder Menschen zu ihr ins Tanzstudio begeben dürfen und ganz bald vielleicht wieder die Bühnen öffnen und auch Zuschauer*innen sich von ihr und ihren Tänzer*innen vereinnahmen lassen dürfen: „Zu Beginn des Lockdowns wusste ich nichts mit mir anzufangen und ich musste aufpassen, dass mir das nicht zu sehr auf die psychische Gesundheit schlägt. Deshalb habe ich mir einen Trainingsplan geschrieben und gehe nun jeden Tag ins Studio und trainiere. Ich brauche das nicht nur, um meinen Körper fit zu halten, sondern auch für meinen Kopf. Es fühlt sich nicht sinnvoll an, was ich da tue. Aber ich hätte ein sehr schlechtes Gewissen, wenn ich diese Zeit, die ich habe, um an mir zu arbeiten, nicht nutzte.“

Und trotz dieser Leere, dieser Schwebe, in der Sarah sich befindet, ist es gerade dieser Mut und dieser Optimismus, mit der sie ihrer Lage begegnet und mit der sie dieser auch etwas Positives abgewinnen will: „Ich bin kein Fan davon, Tanz oder Theater als Video zu sehen, weil die Kamera meinen Blick lenkt und mir vorschreibt, was ich auf der Bühne zu sehen habe und ich auch nie so wirklich dabei sein kann, als wenn ich im Theater säße. Aber dennoch habe ich so schon viele Stücke gesehen, die mir sonst nie begegnet sind“. Auch wir teilen diese Einsicht. Gerade Online-Projekte wie Richard Siegels All For One And One For The Money , welches Sarah auch gesehen hat, machen deutlich, dass sich die Tanz- und Theaterszene große Mühe gibt, sich den Umständen anzupassen und für ihre Zuschauer*innen irgendwie da zu sein. Auch Sarah plant ein digitales Impro-Tanz-Format, in welchem die Zuschauer*innen den Tänzer*innen auf der Bühne in einem Chatfenster Anweisungen geben können. Aber dasselbe ist das für Sarah natürlich nicht: „Für mich ist Tanz immer noch diese reine physische Kraft, die du spürst, wenn jemand in deinem Sichtfeld tanzt oder gar Leute synchron tanzen, das spürst du nicht, wenn du ein Video schaust. Es wird einfach zweidimensional. Es ist diese Begeisterung, dass du einfach nicht genau festmachen kannst, was dich gerade so begeistert hat, du weißt einfach nur: du willst das noch mal sehen“.
Zum Schluss will ich noch wissen, was Sarah sich für den „Postpandemischen Tanz“ vorstellt, ein Begriff, den ich ableite vom „Postpandemischen Theater“, das wir durch das FFT Düsseldorf kennengelernt haben: „Ich glaube, vieles, von dem, was jetzt in den Fokus gerückt wird, gibt es schon länger. Durch die aktuelle Situation bekommen solche Formate, die online oder im urbanen Raum stattfinden, nur viel mehr Zuschauer*innen. Hierdurch werden Tanz und Theater den Menschen, denen möglicherweise vorher der Bezug hierzu fehlte oder bei denen die Hemmschwelle zum Besuch einer Vorstellung hoch ist, zugänglicher und die Zuschauer*innenschaft vergrößert sich vielleicht.
So bleibt zu hoffen, dass das Jahr 2021 Veränderung mit sich bringt, wir vielleicht endlich als Gesellschaft zu der Solidarität finden, mit der wir die Pandemie in den Griff bekommen und hieraus so manche Entscheider*innen überdenken, dass man mit dem Begriff „systemrelevant“ nicht allzu leichtfertig umgehen sollte.
Für das sympathische und inspirierende Interview bedanke ich mich recht herzlich und hoffe darauf, dass wir in Zukunft die Möglichkeit finden werden, Sarah und ihre Company mit ihren großartigen Arbeiten einmal live zu sehen. Sollte das der Fall sein, lest Ihr das natürlich hier.
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Ein Gedanke zu “Weniger verstehen, mehr fühlen: Tänzerin Sarah Kiesecker über ihren Beruf, die Krise und gesunden Optimismus”