Beitragsbild: Hans Traut
Text: Marius Panitz (marius.panitz@theaterwg.de)
Die darstellende Kunst ist der bildenden Kunst oder der Malerei doch in ihren Grundzügen eigentlich gar nicht so fern. Denn hier, sei es im Schauspiel, in der Performance oder auch im Tanz, gibt es diese fast schon pathetisch-beflügelte Redensart, die Darsteller:innen sollten zu Beginn ihrer Arbeit sein wie ein leeres Blatt Papier, eine leere, weiße, blanke Leinwand. Im Laufe des Probenprozesses füllt sich diese Leinwand, alle dürfen ihre Ideen draufpinseln. Am Ende wird das durch diesen Prozess entstandene Kunstwerk, finalisiert für das Publikum, ausgestellt, beklatscht und regt im Idealfall noch zu neuen Gedanken, Diskussionen und Inspiration an. Der Entstehungsprozess allerdings bleibt für die Augen der Zuschauer:innen ungesehen.
So weit, so bekannt.
Doch ist das Fertige immer das, was das Publikum sehen will? Entwickelt es nicht binnen weniger Sekunden eine ganz eigene Dramaturgie, wenn man Künstler:innen von Punkt null an bereits auf der Bühne sieht? An einem Punkt also, an dem sie selbst noch so gar nicht wirklich wissen, was innerhalb der kommenden Stunde passieren wird? Eben, weil sie eine unangetastete Leinwand sind und sich als solche dennoch dem Publikum und dessen Voluntas unterwerfen?
Die beiden Tänzer:innen Dominik Höß und Sarah Kiesecker, die wir schon aus unserem Interview mit ihr zu ihrem Umgang mit den Corona-Einschränkungen kennen, drehen diesen Spieß einfach einmal herum in ihrer Tanzperformance Blank Canvas.
Der Titel übersetzt sich aus dem Englischen ganz schlicht in „leere Leinwand“, steht aber für deutlich mehr, sodass das offizielle Cambridge Dictionary zusätzlich noch eine situative Definition anbietet: „a situation in which nothing has yet been planned or decided, so that someone is free to decide what should happen or be done“.
Diese Situation ist der Startpunkt von Blank Canvas, einer knapp 70-minütigen Tanzperformance, die ursprünglich 2020 zum ersten Mal beim Salonfestival Karlsruhe aufgeführt wurde und gestern Corona-konform im Livestream aus dem Internet vom heimischen Wohnzimmer aus angesehen werden konnte. Die Dramaturgie entwickelte hierbei Yoreme Waltz, die Technik übernehmen Eric Tober und David Luchow.

Kiesecker und Höß stehen alleine auf einer Bühne, welche sehr einfach eingerichtet ist. Im Laufe der Performance sieht man abwechselnd unter anderem Pappkartons, eine Leuchtstoffröhre, einen Teppich oder ein kleines Bällebad. Permanent auf der Bühne sind allerdings zwei Tablets. Über diese erreichen die Künstler:innen Nachrichten, was sie denn tun sollen. Und diese kommen von Zuschauer:innen, die gerade live zusehen und ihre Anweisungen, entweder in einen Chat an Kiesecker oder an Höß unmittelbar zustellen.
Dies ist das Grundkonzept von Blank Canvas. Wir sind quasi bei einer offenen Probe dabei und geben als Zuschauer:innen die Regieanweisungen selbst. Und so erreicht die beiden ein buntes Potpourri an Ideen, die von „winke zähnefletschend in die Kamera“, über „roll dich in den Teppich ein“ bis hin zu „tanzt alle Gefühle durch“ gehen. Einen Rahmen erhält die Performance durch Videoeinspielungen, die die beiden Tänzer:innen in einer Wohnung zeigen, die dem Esprit der Performance entspricht: blank-weiße Wände, neben den auch auf der Bühne verwendeten Requisiten kaum Einrichtung, der Fokus auf Kiesecker und Höß. Und obwohl die Wohnung ob dieser spartanischen Einrichtung nicht wirkt wie jemandes Zuhause, sehen wir doch irgendwie einen Einblick ins Private der beiden. Man sieht, wie sie essen, wie sie mit den Requisiten experimentieren, den Raum erkunden und einfach Spaß haben.
Dieser ist sicherlich auch eine starke Message, die gesendet wird. Sowohl in den Einspielern als auch auf der Bühne wird viel gelacht und herumgealbert. Dies kommt nicht zuletzt durch die Anweisungen der Zuschauer:innen. Auch die beiden Künstler:innen senden eine enorme Sympathie und positive Energie an die heimischen Bildschirme, verlieren dabei allerdings nie ihre Professionalität aus den Augen. So streuen sie neben verspielten Elementen auch immer wieder bruchstückhaft kurze Choreografien aus ihrem professionellen Repertoire ein und enden mit einem beeindruckenden synchronen Tanz zu Bonapartes Melody X, dem einzigen Part der Performance, der mit Musik unterlegt ist.
So werden in dieser knappen Stunde die Zuschauer:innen an die Hand genommen und ihnen wird ohne viele Worte erklärt, wie Tanz, ja wie Kunst entsteht. Wir sehen Experimentierfreude, wir rezipieren Tanz, wir fühlen positive Energie. Und dann: Cut! Plötzlich gehen Kamera und Ton aus, man sieht die Darsteller:innen plötzlich nur mit Nase-Mund-Maske, eine in der Hand gehaltene Kamera filmt den Abbau der Technik. Ein Ende ist irgendwie nicht definiert, wirklich verabschieden können wir Zuschauer:innen uns gar nicht, gern hätten wir, auch wenn für die Künstler:innen nicht hörbar, in einer Abschluss-Sequenz mit Verbeugen laut applaudiert.
Und was kam nun raus bei dem Stück, bei dem wir Zuschauer:innen den Input lieferten?
Eher kein ganzes Stück. Besser vielleicht eine vom Publikum begleitete von Profis dargestellte Tanz-Szenenentwicklung, eine Art Tanzstückentwicklungs-Workshop mit viel Energie und Sympathie. Ein Mut-Machen, Ideen nicht totzuquatschen, sondern sich einfach den nächstmöglichen Teppich zu greifen, sich darin einzurollen und auszuprobieren, was das mit uns macht.

Vielleicht waren wir in unseren Erwartungen auch ein wenig naiv, tatsächlich zu glauben, binnen 70 Minuten bei der Entstehung eines Tanzstückes dabei sein und hieran sogar mitwirken zu können.
Doch kommen wir, liebe Theater WG, mal wieder zurück in die Realität: Mit Blank Canvas nehmen uns Sarah Kiesecker und Dominik Höß für eine Stunde mit in ihre Welt und zeigen uns, was hier alles möglich ist und machen damit deutlich, wie aus ganz wenig ganz viel wird. Anhand verschiedener Requisiten zeigen sie uns, wie sie mit ihren Körpern, fluiden Bewegungen und einer ergreifenden Dynamik quasi aus dem Stehgreif eine enorme tänzerische Energie senden, die bei uns Zuschauer:innen auch größtenteils ganz ohne Musik Gefühle produziert. Es wird nicht viel überlegt und geredet, es werden Impulse aufgenommen und einfach getanzt und ausprobiert und binnen weniger Sekunden sehen wir eine tänzerische Ästhetik, die zu einem Gefühl, zu einer performten Lingua Franca wird und uns alle daran erinnert, dass es eben die kleinen Dinge auf der Bühne sind, die das große Bild ausmachen.
Mit der digitalen Form von Blank Canvas haben Kiesecker und Höß ein Format gefunden, tänzerische Energie in die Wohnzimmer der Zuschauer:innen zu liefern und sie durch die aktive Partizipation in ihre Kunst zu involvieren. Sie haben gezeigt, dass ein Projekt, das auf die Direktheit zwischen Darsteller:innen und Zuschauer:innen setzt, auch auf die Distanz funktionieren kann und haben so den Pandemie-Einschränkungen geschickt den künstlerischen Mittelfinger gezeigt. Und doch drücken wir die Daumen, dass irgendwann die Theater wieder aufmachen und die beiden ihr Publikum live, vis-à-vis und in purer Direktheit vor diese weiße Leinwand stellen und sie einfach einmal tänzerisch pinseln lassen können.
Infos darüber, wann dies vielleicht passiert oder ob ihr Sarah Kiesecker und Dominik Höß noch einmal online zum Tanz auffordern könnt, findet ihr auf der Website des Kulturzentrum Tempel oder auf Seite zur Performance selbst, auf der es übrigens auch die Möglichkeit gibt, für die Künstler:innen zu spenden und sie so in ihrer Arbeit zu unterstützen.
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