Titelfoto: Marco Piecuch(zu sehen ist: Stefan Schleue)
Text: Werner Alderath (werner.alderath@theaterwg.de)
Weihnachten, eine Zeit der (Nächsten-)Liebe, des Schenkens, der Freude, Wärme, des guten Essens. Doch längst wissen wir, dass an Weihnachten in den Familien auch gerne gestritten wird, Familienmitglieder, die man sonst nie sieht, lassen sich wieder mal blicken, alte Geschichten werden aufgewärmt, die nervige Tante schaut wieder zu tief ins Glas und nach flaschenweise Sekt oder Eierlikör lallt man sich fröhlich die Wahrheit ins Gesicht. „Humbug“ urteilt deshalb Ebenezer Scrooge in Charles Dickens Eine Weihnachtsgeschichte von 1843 und möchte stattdessen alleine bleiben. Im Vordergrund sieht er seinen Profit: Das einzige, was im Leben zählt sind finanzielle Gewinne. Die Geschichte dürfte den meisten aus dem Englischunterricht, der Disney-Verfilmung, der neuesten Adaption der BBC oder auch als Musical-Version bekannt sein. In der Weihnachtsnacht erscheinen Scrooge neben seinem verstorbenen Geschäftspartner Jacob Marley auch drei Geister (der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Weihnacht), die Scrooge vor Augen führen, wo sein Treiben ihn und andere hinführen wird. Am Ende ist er geläutert und erkennt den Sinn des Weihnachtsfests.
Gerade weil Eine Weihnachtsgeschichte so bekannt ist, hat sich das Rheinische Landestheater Neuss dieses Stoffes angenommen, jedoch in einer leicht veränderten Fassung. Der britische Schauspieler, Autor, Komiker und Dramatiker Patrick Barlow feierte 2012 die Uraufführung seiner Version der Weihnachtsgeschichte, die sehr dicht an Dickens Vorlage angelehnt ist, jedoch noch einen deutlich komödiantischeren Touch verliehen bekommen hat. Eigentlich sollte die deutsche Erstaufführung in Neuss bereits 2020 über die Bühne gehen, doch die Gründe für die Verschiebung sind ausreichend bekannt und werden an dieser Stelle nicht weiter erwähnt. Dennoch: die Produktion war bereits 2020 fertig, das Team um Regisseurin Susi Weber stand in den Startlöchern, die Generalprobe war abgespielt, doch dann musste die Inszenierung, wie viele andere, gestoppt werden. Nun, ein Jahr später, feierte sie Premiere und was für eine!

Wer Barlows Fassung einmal lesen durfte, stellt bereits fest, dass nur wenige Schauspieler:innen benötigt werden, um genau zu sein: fünf. Dennoch kommen sehr viele Rollen vor, die besetzt werden müssen. Sollten sich die Darsteller:innen also in permanenten Rollenwechseln wiederfinden? Jein. Susi Weber griff in die Trickkiste und holte sich mit Katharina Kummer eine Puppenspielerin und Regisseurin mit ins Boot, die sich als Coach für Puppen-, Material- und Objekttheater verantwortlich zeichnet. Sie sorgte dafür, dass bereits mit kleinen Elementen Rollen ersetzt und bespielt werden konnten. Ein junger Scrooge wird mit Hilfe von Packpapier und Kreppband zusammengebunden, die beiden jüngsten Töchter der Familie Cratchit mit kleinen Schleifen auf Draht dargestellt und der Geist der zukünftigen Weihnacht als imposanter Sensenmann mit großen Tüchern auf die Bühne gebracht. Dank des enormen Feingefühls des Ensembles für die jeweiligen Gegenstände wird so allem ein Leben und eine Filigranität verliehen, wodurch das Publikum vollkommen vergisst, dass auf der Bühne gar nicht Personen als solche erscheinen, sondern belebte Gegenstände, die durch die Hilfe des Ensembles belebt werden.
Neben der Verwendung des Objekt- und Materialtheaters wird die Abstraktion der Inszenierung auch im Bühnenbild widergespiegelt. Sind die Kostüme noch dem viktorianischen Zeitalter angemessen, wirkt das Bühnenbild (für beides Luis Graninger verantwortlich) mit seinen beweglichen Gerüsten eher grau und sehr unweihnachtlich. Und doch zeigt sich im Laufe der Inszenierung die Wandelbarkeit dieses, auf Rollen gesetzten, Bühnenbilds, das zusätzlich durch tolle Lichteffekte, aber auch Nebel unterstützt wird, wodurch Stimmungen verschiedenster Art und Weise entstehen. Auch die Musik, die eigens von Wolfi Rainer für die Inszenierung entwickelt wurde, fügt sich perfekt in die Inszenierung ein. Spätestens mit Beginn des Stücks, das mit einem sehr unterhaltsamen Weihnachtsmedley beginnt, das von Tillmann Brandt wegen der Verschiebung um ein Jahr noch einmal korrepetiert wurde, ist sofort Weihnachtsflair im Saal vorhanden. Während der Inszenierung werden immer wieder kleine Andeutungen, wie eine Hand voll weißen Pulvers, das Schnee andeutet, eine kleine Spieluhr oder aber ein als Tannenbaum umfunktionierter Regenschirm genutzt, um das Publikum zu erinnern, dass es sich um ein Weihnachtsstück handelt. Diese Abstraktion zieht sich durch die gesamte Inszenierung und überlässt es dem Publikum, sich durch die eigene Fantasie die entsprechenden Bilder zu schaffen. Von unserer Warte aus können wir sagen, dass dies gelungen ist.
Allerdings geht eine solche Reduktion nur auf, wenn das Ensemble eine entsprechende Leistung auf die Bühne bringt. Während die Kolleg:innen allesamt mehrere Charaktere verkörpern mussten, konnte sich Stefan Schleue als Ebenezer Scrooge voll auf seine Rolle konzentrieren. Schleue überzeugt durch sein fantastisches Spiel, denn hegt man anfangs noch eine gewisse Antipathie gegen seine Rolle, so ist seine turbulente Reise auch eine Reise für das Publikum, während welcher Schleue immer mehr Sympathien gewinnen kann. Es sind die kurzen Momente, in denen er aus dem grimmigen Scrooge einen in Erinnerung schwelgenden, älteren Herrn werden lässt, den man zwischenzeitlich gerne in den Arm nehmen möchte. Und doch bleibt sich Stefan Schleue und seiner Rolle bis zum Schluss treu, selbst, als es um den Schlussapplaus geht, eine tolle Leistung. Peter Waros, Juliane Pempelfort, Mirjam Schollmeyer und Philippe Ledun komplettieren das Ensemble. Sie alle spielen mehre Rollen, fungieren aber auch immer wieder als Erzähler:innen, die auch das Bühnenbild umbauen. Besonders beeindruckt hat uns, dass wir ein präzises Timing auf der Bühne beobachten konnten, sei es bei den Umbauten oder auch beim Sprechchor, beispielsweise als die vier den verstorbenen Marley geben. Es wird deutlich, dass wir auf der Bühne ein geschlossenes Ensemble sehen, das wie ein Schweizer Uhrwerk funktionier, was für die entsprechende Dynamik im Stück sorgt. An dieser Stelle sollte man auch die Regisseurin Susi Weber hervorheben, die es hinbekommen hat, nicht nur die Inszenierung ansehnlich auf die Bühne zu bringen, sondern auch ein Team geschaffen hat, das funktioniert, Chapeau! Neben ihren anderen Rollen sticht Juliane Pempelfort besonders als Geist der gegenwärtigen Weihnacht heraus, der schrill, bunt und laut ist und die Weihnachtsstimmung verteilt, wie das niemals enden wollende Konfetti aus ihrer Tasche. Pempelfort versteht es, Scrooge in die Mangel zu nehmen und ihn wortgewandt an die Wand zu spielen. Philippe Ledun ist u.a. als grimmiger Mr. Grimes und Scrooges Neffe Frederick zu sehen, zwei Rollen die gegenteiliger nicht sein könnten. Als Mr. Grimes triezt er den jungen Scrooge und als Frederick versprüht Ledun eine herzliche und warme Atmosphäre. Peter Waros beweist sein komödiantisches Talent sowohl in der Rolle von Scrooges Angestelltem Bob Cratchit als auch in der Rolle des Geists der vergangenen Weihnacht. Trotzdem wirkt Waros‘ Spiel nie albern und tut vor allem der Rolle als Cratchit keinen Abbruch, da er es versteht auch die ruhigen und emotionalen Momente auszuspielen, beispielweise, wenn es um Tiny Tim geht. Mit Mirjam Schollmeyer ist nicht nur eine weitere Schauspielerin, sondern auch eine begnadete Puppenspielerin (über die wir auf diesem Blog auch ein Porträt verfasst haben) mit im Ensemble dabei. Schollmeyer ergänzt das Ensemble nicht nur spielerisch, sondern vor allem durch ihr Spiel mit den Gegenständen, so entstehen durch sie und Juliane Pempelfort ein kleiner Papier-Scrooge, dem die beiden durch ihre Bewegungen und ihr Spiel Leben einhauchen, aber auch gemeinsam mit Philippe Ledun kann sie einen überdimensionalen Sensenmann als Geist der zukünftigen Weihnacht mit viel Grazie auf die Bühne bringen.
Wer es bis hierhin noch nicht mitbekommen hat: Wir waren und sind begeistert! Dem ganzen Team um Susi Weber ist es gelungen, eine tolle Produktion auf die Bühne zu bringen, die über die knappen 80 Minuten Spielzeit von allen getragen wird. Da kann man über kleinere Längen in manchen Dialogpassagen oder auch die Tatsache, dass manches Objektspiel, gerade für Publikum, das in den hinteren Reihen gesessen hat, zu klein erscheinen mag, hinwegsehen. Dass wir darüber hinwegsehen, ist allerdings nicht unserer Begeisterung geschuldet, sondern der Tatsache, dass es dem Publikum durch die Abstraktion und Reduktion möglich gemacht wird, sich in solchen Stellen wieder seiner Fantasie hinzugeben, zu erahnen wie vielleicht Scrooges Schlafzimmer aussehen könnte oder sich den Papier-Scrooge mit seinen eigenen Gedanken zu vervollständigen. Und dass es nicht nur uns, sondern auch allen Anwesenden gefallen hat, zeigt der Schlussapplaus, der fast zehn Minuten angehalten hat.
Wir finden, dass die Inszenierung am Rheinischen Landestheater Neuss eine tolle Abwechslung zu den sonst sehr naturalistischen und pompösen Darstellungen von Dickens‘ Geschichte (z.B. beim Musical Vom Geist der Weihnacht) ist, die es sich zu besuchen lohnt. Auch für jüngere Zuschauer:innen (ab ca. acht Jahren) ist die Produktion durchaus geeignet, sodass einem Familienausflug ins Theater nichts im Wege steht. Wer interessiert ist, sollte sich die Spieltermine auf der Website des RLT ansehen und sich schnell Tickets sichern.
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