Titelfoto: Daniel Dähling
Text: Werner Alderath (werner.alderath@theaterwg.de)
Als der griechisches Dichter Euripides 431 v. Chr. seine Tragödie Medea verfasste, dachte er wohl nicht daran, dass das Stück knapp 2.500 Jahre später immer noch auf die Bühne gebracht wird. Anders als in der Antike allerdings nicht nur von Männern, sondern gleich von einer ganzen Schar von Schüler:innen am Heinrich-Mann-Gymnasium Köln. Doch ist das Stück heute überhaupt noch relevant? Kann es den Beteiligten heute noch etwas mitgeben? Die Antwort nach knappen 60 Minuten: Ja! Doch warum?
In Medea geht es um gleichnamige und zauberkundige Protagonistin, die ihrem Liebhaber Iason verhilft an das goldene Vlies zu kommen, das er im Auftrag des Königs Pelias von Iolkos rauben soll. Iason begibt sich mit den Argonauten nach Kolchis, um seinen Auftrag auszuführen. Dort lernt er Medea kennen, die beiden verlieben sich und sie verhilft Iason dabei den Drachen zu besiegen, der das goldene Vlies bewacht und flieht anschließend mit den Argonauten. Durch eine List von Medea kommt König Pelias ums Leben und sie bekommt Kinder mit Iason, der sie allerdings nach einiger Zeit hintergeht. Als betrogene und verstoßene Frau schmiedet Medea einen tödlichen Rachefeldzug.
Liebe, Betrug, Rache, selbst ausgestoßen zu sein oder jemanden auszustoßen, alles Themen, die man durchaus mit jungen Erwachsenen, die kurz vor ihrem Abitur stehen, behandeln kann. Das Ensemble um Leiterin Evi Amon nimmt die alte Sage und bricht sie auf, lediglich einige Auszüge des Originaltextes werden genutzt, an anderen Stellen werden die Szenen frei interpretiert und in die Sprache der Darsteller:innen übersetzt. Iason möchte Medea beim ersten Kennenlernen lieber eine WhatsApp-Nachricht schreiben, Medea hingegen verweist darauf, dass sie nur Pergament zur Antwort habe. Der Drache ist kein Drache und der Kampf um das goldene Vlies ist einem Spiel aus der Serie Squid Game nachempfunden. Antike trifft auf Moderne. Doch sehen wir eine gute Stunde einen Clash zwischen Alt und Neu? Definitiv nein.
Bei einer Gruppengröße von über 20 Schüler:innen ist der Chor als theaterästhetisches Mittel unverzichtbar. Immer wieder gibt es gemeinschaftlich gesprochene Textpassagen, aber auch Bewegungs- und Tanzelemente. In der Antike hatte der Chor eine narrative, kommentierende oder mahnende Funktion. Auch in der Umsetzung am Heinrich-Mann-Gymnasium kommt der Chor diesem Element in Teilen nach. Dabei ist der Chor ein Mittel, um die gesamte Gruppe am Stück zu beteiligen und um keine Hauptrollen entstehen zu lassen, denn jede:r kann Iason und jede:r Medea sein, was aus theaterpädagogischer Sicht ein guter Ansatz bei großen Gruppen ist. Die Stärke der Inszenierung liegt definitiv in der Gruppe, denn die gemeinsam gespielten Szenen haben Tempo, sie sind präzise und sehr ansehnlich. Das Zusammenspiel mit tollen Lichteinstellungen und das Verwenden von goldenen Folien führen zu tollen Bildern. Kleinere Schwächen zeigen sich dann in den Szenen, die nicht von der gesamten Gruppe gespielt werden, was in der Aussprache oder der Lautstärke deutlich wird.
Auch die Umbaupausen ziehen einen als Zuschauer:in gelegentlich aus den starken Szenen heraus. Diese werden zum Teil mit einem Podcast auf dem Off überbrückt, der dem Podcast Mordlust nachempfunden ist, aber auf die Geschichte von Medea angepasst wurde. Allerdings ist der Umbau mit den Folien stellenweise so laut, dass man dem Podcast nicht immer folgen kann. Später erfolgen Umbauten ganz ohne Untermalung. Dennoch gelingt es der Gruppe immer wieder das Publikum in den Folgeszenen abzuholen, was für die Stärke des Spiels spricht.
Mit Hilfe des Podcasts, aber auch mit autobiographischen Ansätzen wird die Brücke zu den jungen Erwachsenen geschlagen, die sich mit Medea identifizieren, die als gehörnte Ehefrau Rachegedanken entwickelt und bereits vorher nicht von der Gesellschaft akzeptiert wurde. Gefühle, die auch die jungen Erwachsenen kennen, die in Rollenklischees gedrückt werden: Die Jungs müssen die starken Macker sein, die Mädels müssen es sich gefallen lassen, dass ihnen hinterhergepfiffen wird, der Russe hat natürlich immer Vodka dabei und die Latina ist sowieso immer die Schlampe. Eindrücklich zeigen die Spieler:innen, dass Sexismus, Rollenklischees, Rassismus oder Ausgrenzung zu unser aller Alltag gehören. Fast schon verständnisvoll blicken sie so auf Medea, deren Rachefeldzug sie am Ende gut nachvollziehen können. Es wird gar behauptet, dass Medea die erste Frau sei, die das Empowerment in Gänze umgesetzt habe.
Man kann streiten, ob das zu moralinsauer ist, ob nicht viele Schubladen aufgezogen werden, die thematisch gar nicht richtig bedient werden, doch bei allem wird eines klar: Medea ist heute noch aktuell und betrifft unsere Gesellschaft mehr denn je. Es muss gar kein Wunsch oder keine Lösung ausgesprochen werden, denn auf der Bühne sieht man die jungen Erwachsenen, die von all den Themen betroffen sind, die ihnen die Vorlage liefert, die aus ihrem Leben erzählen und, dass sie diese Unart schlichtweg scheiße finden. Natürlich geht es bis zu einem gewissen Grad um Anpassung, um miteinander auszukommen, doch ist dies ein einseitiger Prozess? Wohl eher nicht, denn beide Seiten können voneinander lernen, doch der erste Schritt dazu wäre die gegenseitigen Vorurteile übereinander aufzugeben.
Am Ende gibt es stehende Ovationen, zurecht, wie wir finden, denn trotz der Schwächen, die die Inszenierung hat, überwiegt deutlich die Leistung des Ensembles und die starken Bilder. Trotz unserer kritischen Betrachtung handelt es sich immer noch um Schultheater. Wir reden nicht von Personen, die jahrelang auf einer Schauspielschule waren und dennoch spielen sie die Szenen zum Teil so präzise, so fein aufeinander abgestimmt, mit so vielen Tempowechseln solide durch, dass deutlich wird, was selbst an manchem Schauspielhaus fehlt: Hier steht ein Ensemble auf und hinter der Bühne, denn die Technik wird natürlich auch von Schüler:innen gefahren. Eine tolle Leistung des gesamten Kurses.
Abschließend möchten wir auf einen Umstand hinweisen, der uns seit Jahren in der Schultheaterarbeit stört: Trotz kleinerer Kritikpunkte kann man an einer Schule eine Inszenierung sehen, die zeigt, dass wenn man junge Erwachsene für Theater begeistern kann, sie unfassbar tolle Leistungen erbringen und sich selbst sprachlich komplexere Texte und Inhalte draufschaffen können und über sich hinauswachsen. Das liegt auch an einer Leitung, die für das Theater brennt, einer Lehrkraft, die sich zwar im Rahmen ihres Berufs, aber auch deutlich darüber hinaus, mit viel Herzblut für ihre Gruppe engagiert. Da ist es wieder einmal enttäuschend, dass dies nur in Teilen gewürdigt wird. Beim Besuch der Schulwebsite findet man nahezu keinen Hinweis auf die Inszenierung, kein Text oder Bild, dass diese Produktion zum Theatertreffen der Jugend nach Berlin eingeladen wurde, was eine tolle und respektable Leistung für alle Beteiligten ist. Stattdessen ist es wichtig, dass der Schulname in Berlin vertreten wird. Natürlich ist man als Gruppe auch Vertreter seiner Region, Stadt oder Institution, doch sollte der Fokus weniger oder nicht nur auf diesem Aspekt liegen, sondern stattdessen sollte festgestellt werden, dass man als Gruppe vor allem eines ist: geil! Dass es dazu erst kommt ist der Zeit und dem Engagement von allen Beteiligten zu verdanken, das bei Weitem keine Selbstverständlichkeit ist. Dessen sollten sich manche Leute bewusst werden und ihre Gruppen auch entsprechend unterstützen, egal ob finanziell, durch Unterstützung in der Werbung oder organisatorisch. Gerade im Schulkontext ist jede Unterstützung gut zu gebrauchen, damit solche Leute nachhaltig und lange weiter der Theaterarbeit treu bleiben.
Mit diesem emotionalen Plädoyer für mehr Unterstützung des Schultheaters und das Engagement aller Beteiligten möchten wir die Kritik beschließen und es an dieser Stelle auch unterstreichen, dass wer die Gelegenheit hat sich Medea in der Fassung des Oberstufen-Kurses am Heinrich-Mann-Gymnasium in Köln anzusehen, dies auch tun sollte.
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