Beitragsbild: Stephan Drewianka
Text: Marius Panitz (marius.panitz@theaterwg.de)
Geld regiert die Welt. Alter Spruch, steht auf jedem dritten Abreißkalender in irgendeiner ähnlichen Deklination. Und passender könnte man auch kein Leitmotiv finden für Friedrich Dürrenmatts Besuch der alten Dame aus dem Jahr 1956. Das, was Literaturwissenschaftler:innen als tragische Komödie bezeichnen, nennen Musikbegeisterte, vor allem im Jahr 2022 in Tecklenburg: Musical. Und wir setzen noch einen drauf und diagnostizieren dem Stück nicht aufhören wollende Spannung, eine gestochen scharfe Analyse des menschlichen Handelns und einhundert Prozent getroffene Töne und unter die Haut gehende Musik. Wie kommen wir zu dieser Diagnose?
Endlich wieder Tecklenburg! Nach zwei Jahren Corona-Pause haben wir nach der virusbedingten Freilichtbühnenabstinenz endlich wieder die Möglichkeit, gelungene Musicalkunst mit hochkarätigen Darsteller:innen auf einer der größten Freilichtbühnen Deutschlands im traumhaft idyllischen Tecklenburg zu sehen. Mittlerweile dürfen wir uns wahrlich auch bereits als alte Hasen im Tecklenburg-Spiel bezeichnen, durften wir doch bereits einen pathosgeladenen König Artus, eine düstere Rebecca, einen Lachmuskelkater verursachenden Shrek, einen tragischen Doktor Schiwago und einem sich bis zur Weißglut neckenden Duo namens Don Camillo und Peppone vor dem wundervoll historischen Panorama der Tecklenburger Freilichtbühne zuschauen und lauschen. Die zweijährige Schmacht nach Musical unter freiem Himmel sollte nun also die Musicaladaption des Dürrenmattklassikers, umgesetzt von Moritz Schneider, Michael Reed, Christian Struppeck und Wolfgang Hofer, in Tecklenburg in der Regie von Ulrich Wiggers stillen.

Wir befinden uns in der kleinen, armen, heruntergekommenen Kleinstadt Güllen. Alles ist trist, düster, (g)rau. Die Einwohner:innen, unter ihnen Bürgermeister Matthias Richter, Lehrer Klaus Brandstetter, Pfarrer Johannes Reitenberg, Polizist Gerhard Lang sowie Ladenbesitzer Alfred Ill (keine römische Ziffer, kein Adelstitel, sprich: „ILL“) mit seiner Frau Mathilde, ächzen und stöhnen vor Armut und Beschäftigungslosigkeit. Da kündigt sich die Rückkehr einer ehemaligen Güllenerin an. Damals die unscheinbare Kläri, heute Multimilliardärin Claire Zachanassian. Die Güllener wittern eine Chance: Wenn man Claire doch nur überzeugen könnte, dass sie aus ihrem Vermögen wenigstens ein bisschen an ihre alte Heimatstadt abgibt, könnte dies den rettenden Aufschwung bringen. Die Stadtgemeinschaft ist sich einig: Alfred soll’s regeln, immerhin war der damals mit Kläri in einer Beziehung. Als Claire mit Helikopter, dutzenden Koffern, einem Käfig mit schwarzem Panther und zwei verruchten Bodyguards auftaucht, stellt sich die Spendenbereitschaft der nun überreichen ehemaligen Güllenerin sehr schnell heraus: Sie verspricht der Stadt zwei Milliarden! Ihre Bedingung: Alfred Ill soll sterben. Nach moralischen Einwänden seitens Bürgermeister, Pfarrer und Polizist sagt die Milliardärin bloß: „Ich kann warten“. Und so entwickelt sich eine Handlung, die verzwickter nicht sein könnte: Wird es ein:e Güllener:in wirklich wagen, einen Menschen umzubringen, nur für Geld? Und wieso überhaupt Alfred? Wieso ist Claire Zachanassian so versessen darauf, dass ein unbedeutender Ladenbesitzer stirbt?
Dies und noch viel mehr sind Fragen, die das Stück beantwortet und es überlässt natürlich auch den Zuschauer:innen selbst die Beurteilung, ob irgendwann so viel Geld geboten werden kann, dass ein Menschenleben aufgewogen wird. Wann wird die Verwaltung (Bürgermeister), wann die Exekutive (Polizist), wann die Kirche (Pfarrer) schwach? Darf man ein Auge zudrücken, wenn es um das Wohl einer ganzen Stadt geht? Fragen über Fragen, deren Beantwortung für diese Besprechung zweitrangig sind. Wir stellen uns hier erst einmal die Frage: Wie wirkt der ganze Geld-Leben-Moral-Spuk vorm Tecklenburger Panorama?
Die Freilichtspiele Tecklenburg bewerben diese Inszenierung (mit fettem Spoiler!) wie folgt: „Spitzensolisten, ein großes Ensemble und der Chor der Freilichtspiele werden dazu mit einem Aufgebot von nahezu 100 Mitwirkenden eingesetzt, um eindrucksvolle Bilder zu schaffen. Die gesamte Bandbreite an Emotionen bestimmt dieses Musical, an dessen Ende das Todesurteil vollzogen ist.“
Mit diesen Spitzensolisten meint das Programmheft zuerst einmal Masha Karell. Die Sopranistin aus Frankfurt bringt viel Musicalerfahrung mit, spielte auch bereits 2013/14 bei der Uraufführung des Stückes bei den Thuner Seefestspielen sowie 2014/15 am Wiener Ronacher das Cover für Claire Zachanassian, begeisterte die Zuschauer:innen aber unter anderem auch in Cats (2010-2013), Die Liebe stirbt nie (2015/16) sowie in Mary Poppins in Stuttgart und Hamburg (2017/18). Konservative Tecklenburg-Ultras hörten wir darüber schimpfen, dass sie sich so sehr auf Pia Douwes, die vor Corona noch für die Rolle der Claire Zachanassian eingeplant war, gefreut hatten. Diesen Ultras können wir jedoch versichern: Vom ersten Auftritt der Claire auf der breiten Tecklenburger Bühne vereinnahmt Karell das Publikum. Und das liegt nicht nur an der titelgebenden Rolle, ihrem nahezu durchgehenden Hochstatus oder dem beeindruckenden Kostüm, sondern auch an Karells starker Bühnenpräsenz und Energie, die sie in den Zuschauer:innenraum sendet. Abgerundet wird diese Präsenz durch ihre Stimmgewalt. Karell singt nicht nur. Sie fühlt. Jeder Ton spiegelt die Rachsucht der Claire Zachanassian und ihre Überzeugung, dass Alfred Ill sterben muss, wider, was dem gesamten Musical seine nicht abreißen wollende Spannung ermöglicht.
Als stimmgewaltiges Gütesiegel herausragender Musicalkunst erleben wir auch Thomas Borchert, der uns an diesem Abend den Alfred Ill gibt und damit beweist, dass er nicht nur, wie im Jahr 2019 an gleicher Stelle als Don Camillo, komisch, sondern auch ernst und tragisch kann. Obwohl das Genre des Musicals gerne groß und pathetisch daher kommt, weiß Borchert auch um die kleinen und stillen Momente, welche gerade bei Alfred Ill seine steigende Not, Unsicherheit und damit Sorge ausdrücken. Borchert versteht es nur zu gut, einen Menschen darzustellen, der niemandem mehr trauen kann. Dass er ein Meister der Details der Rollenarbeit ist, lernen wir auch im Interview aus dem Jahr 2019, das wir gemeinsam mit ihm und Milica Jovanović geführt haben.
Mehr gewünscht als bloß zwei Soli, die die gesamte Bühne füllen, hätten wir uns von Navina Heyne als Mathilde Ill. Was eine Frau, was eine Stimme! Was muss das für ein Dilemma sein, mit ebenjenem Mann verheiratet zu sein, der für eine Geldsumme von zwei Milliarden zum Abschuss freigegeben wurde? Was ist stärker? Die Sorge um die Existenz oder die Liebe zum eigenen Ehemann? In ihrer Zeit auf der Bühne nimmt uns Heyne mit in diese Zerrissenheit und bewirkt auch mit ihrem Gesang bei uns Zuschauer:innen einen starken Kloß im Hals.
In weiteren Rollen stechen Martin Pasching als Bürgermeister, Alexander di Capri als Lehrer und Benjamin Eberling als Pfarrer hervor, stellen sie doch allesamt ebenjene Instanzen dar, die eigentlich die moralischen Schranken bedeuten, wenn öffentlich ein Kopfgeld auf ein Menschenleben ausgesetzt wird. Kaum merkbar, schon fast heimlich steuern die drei Darsteller ihre Rollen so, dass aus moralischen Zeigefingern ganz urplötzlich nach Geldscheinen greifende Hände werden.

Ein ganz besonderes Highlight des Abends ist die Verflechtung zwischen Vergangenheit und Gegenwart der Protagonist:innen. Katia Bischoff und Fabio Diso verkörpern die junge Claire beziehungsweise den jungen Alfred und etablieren dem Publikum in jungfräulichem Weiß und glockenklarer Gesangsstimme hierdurch die Grundpfeiler des Konflikts und geben die wahren Hintergründe der Rachegeschichte preis und überraschen mit dem einen oder anderen Twist so manche:n Zuschauer:in.
Doch was wären die ganzen Solist:innen ohne ein solides Ensemble? Für Besuch der alten Dame können wir auch dieses nur loben. Neben ansehnlichen Tanzchoreografien mit riesigen Dollarscheinen bleibt auch der Auftritt von Journalist:innen, die über die Geschehnisse in Güllen berichten, welcher sich zu einem kafkaesken Karneval entwickelt, im Gedächtnis. Und natürlich, wie für Tecklenburg üblich, gehen auch im Jahr 2022 die Choräle eindringlich unter die Haut und zaubern gemeinsam mit dem Solist:innen ein beeindruckendes musikalischen Gesamtbild.
Unterm Strich können wir wieder festhalten: Eine Reise nach Tecklenburg lohnt sich, Der Besuch der alten Dame ist ein spannendes Musical mit moralischem Pathos, bildgewaltigen Szenen, stimmgewaltigen Sänger:innen und einem Ensemble, das wie ein schweizer Uhrwerk funktioniert. Ein Blick über die Schulter an beiden Abenden lässt beim Besuch der alten Damen mit teilweise vollkommen leeren hinteren Reihen allerdings vermuten: Das zweite abendfüllende Musical, Sister Act, zieht mehr Publikum. Woran mag das liegen? Vielleicht kennt man Dürrenmatts Stück nicht? Vielleicht schreckt trockene Literatur ab? Vielleicht liegt die Kost zu schwer im Magen? Wir können sagen: Mitnichten! Trotz der ernsten Thematik und der Tragik ist das zugrunde liegende Werk zeitlos, regt zum Nachdenken an und hat besonders als Musical mit großartigen Darsteller:innen und einem Spitzenensemble einen hohen Unterhaltungswert, der bei künftigen Veranstaltungen unbedingt wieder mit vollgefüllten Reihen belohnt werden muss.
Wann diese künftigen Vorstellungen terminiert sind? Diese Infos findet ihr auf der Website der Freilichtspiele Tecklenburg.
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Liebsten Dank für die netten Gedanken;)
Jonne
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