Kapitel F33.1 – Ein Kammerspiel klärt auf

Beitragsbild: Patric Prager
Text: Marius Panitz (marius.panitz@theaterwg.de)

Liebe Leser:innen,
bevor es mit unserer Rezension losgeht, eine kurze Sache: Der Text sowie das vorgestellte Stück behandeln das Thema Depression und Suizidgedanken. Lies ihn also nur, wenn du dich damit wohl fühlst. Hilfe oder Unterstützung findest bei der Hotline der Deutschen Depressionshilfe unter 0800 / 33 44 533, bei regionalen sozialpsychiatrischen Diensten, online http://www.psychenet.de/de/hilfe-finden/schnelle-hilfe/soforthilfe oder als Nachtoption bei der Telefonseelsorge 0800 / 11 10 111.

Am vergangenen Samstag waren wir eingeladen in die BOX, einem vergleichsweise neuen Theater der freien Szene in Köln, welches als Hybrid-Plattform zum einen eine Spielfläche für freie Künstler:innen, zum anderen aber auch Ausbildungsstätte für Studierende der Theaterakademie Köln dient.

Zu sehen gab es das Kammerspiel „Kapitel F33.1“, ein Theaterstück mit etwas sperrigem Titel, will man meinen. Was findige Mediziner:innen sicherlich sofort erkennen, ist für Laien eine Kombination an Zahlen und Buchstaben. Und doch möchten wir behaupten, dass auch immer mehr Nicht-Medizinier:innen mit diesem Titel vertraut sein sollten. Der Titel steht nämlich für nichts weiter als ein Auszug aus der ICD, der „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“ der WHO, in welcher international genormt Krankheiten klassifiziert werden, um hinterher die Diagnose zu erleichtern. Hinter der Klassifikation „F33.1“ verbirgt sich die rezidivierende depressive Störung in gegenwärtig mittelgradiger Episode, kurz: eine wiederkehrende Depression.

In Kapitel F33.1 (Regie: Paulina Triebs, Dramaturgie: Patric Welsbacher) sehen wir ein spärlich eingerichtetes Zimmer mit Bücherregal, einem Bett und einem Schreibtisch darin. Schauspielerin Agnes Fischer wuselt hierin, ganz in schwarz gekleidet, herum und scheint zu warten, sich dabei zu langweilen. Sie schmeißt sich auf’s Bett und rezitiert aus dem Buch „Depressionen überwinden für Dummies“ (das gibt’s wirklich!), bis irgendwann Ricarda Clahsen dazu kommt, etwas alltagstauglicher gekleidet, aber dennoch mit einer Miene, die dem restlichen düsteren Setting entspricht. Die beiden treten schnell in einen vertrauten Dialog, die kurze Verwirrung über die namenlosen Rollen und ihre Beziehung zueinander wird schnell aufgelöst, es handelt sich bei den beiden um keine WG, kein zusammenlebendes Paar oder Geschwister. Hier spricht eine depressive Person mit ihrer verkörperten Depression höchstselbst. Ein einfacher und zugleich genialer Ansatz, viele Probleme, die die Erkrankung mit sich bringt, zu verbalisieren und greifbar zu machen. Dazu gehören die ständigen Vorwürfe, die die Depression der Erkrankten macht, sie würde ihre Wohnung nicht aufräumen, mache keinen Sport und könne ihre To-Do-Liste auch einmal wieder weiter abarbeiten. Dazu gehören aber auch visuelle Elemente, wie die Tatsache, dass die Depression der Erkrankten kaum von der Seite weicht, wie eine nervige Klette an ihr klebt und sie nur dann kurz in Ruhe lässt, wenn sie schläft (um sich eine Fünf-Minuten-Terrine zu kochen?!).

Ricarda Clahsen und Agnes Fischer (Foto: Patric Prager)

Abseits des größtenteils dialogischen Spiels bleibt uns eine Szene besonders in Erinnerung: Der oben beschriebene Umstand, dass die Depression klettenhaft an der Erkrankten hängt, wird in einer Tanzperformance zu düsterem Licht und bedrückender Musik visualisiert. Fischer klettert regelrecht auf Clahsen herum, sie klebt an ihr wie Kaugummi, ist ein untrennbarer Teil von ihr. Das mimische Spiel Clahsens, gerade in dieser Szene, drückt die Verzweiflung aus, die keinen Ausweg von diesem Parasiten erkennen lässt. Solche Momente gingen unter die Haut. Solche Momente waren es, die die Krankheit deutlicher machten als jeder Dialog.

Ein zweites Stilmittel des Stückes ist das Spiel mit Längen. Eine Sequenzen werden bewusst in die Länge gezogen. Dazu gehört die Lektüre des Dummie-Buches gleich zu Beginn oder die Schlaf-Sequenz, in welcher Clahsens Figur, zugedeckt von Tabletten-Verpackungen, im Bett liegt und Fischers Depression-Figur daneben sitzt und zu warten scheint. Nichts weiter passiert hier. Wir werden als Zuschauer:innen allein gelassen mit diesem Bild und der angenehmen musikalischen Untermalung. Wir beginnen, zu deuten: Sind das Schlaftabletten? Hat Clahsens Figur Suizid begangen? Oder nur Antidepressiva, von denen zuvor die unendliche Liste der Nebenwirkungen vorgelesen wurden? Wirken diese Nebenwirkungen nun? Wir werden allein gelassen, es fühlt sich lange an. Für unseren Geschmack zu lange. Uns fehlt die „echte Lernzeit“, um es pädagogisch auszudrücken. Auch wenn wir kein theatrales Effektfeuerwerk erwarten, hätten wir uns doch irgendwas gewünscht, denn schnell sind unsere Deutungsansätze durchgespielt und ein ungeduldiges: „Kann jetzt weitergehen!“ zischt durch unsere Gedanken.

Doch ist es vermutlich der Zauber der Entschleunigung, mit dem hier gespielt werden soll. Zurücklehnen, Bild genießen, selbst in Gedanken verfallen. Durchaus ein legitimes Mittel des Theaters. Nichtsdestotrotz fallen diese Ansätze des Spiels mit Längen in eine deutliche Kategorie: Muss man mögen.

Handwerklich liefern Clahsen und Fischer gut ab. Fischer erweckt eine übereifrige und ganz bewusst nervige Depression zum Leben, die schnell zur übergriffigen Antagonistin des Stückes wird. Wir wollen ihr Handeln, ihren Einfluss, ihre Motive nicht verstehen und sympathisieren schnell mit Clahsens Rolle, haben Mitleid mit ihr, fühlen fast ihre Verzweiflung, diese düstere Begleitung, die sie tagein-tagaus aufzieht, stresst und beleidigt, nicht mehr loswerden zu wollen.

Agnes Fischer und Ricarda Clahsen (Foto: Patric Prager)

Seit einigen Jahren machen sich Personen, die im öffentlichen Raum wahrgenommen werden, stark dafür, dass das Thema Depression nicht, wie so häufig in der Vergangenheit, unter den Teppich gekehrt wird. Die Kabarettisten Torsten Sträter oder Alexander Bojcan (Kurt Krömer), die Schauspielerin Nora Tschirner oder gar internationale Stars wie Lady Gaga oder Jim Carrey reden offen über ihre Erkrankung und finden unter dem Hashtag #endthestigma ein Dach dagegen, Depressionen nicht als Schandmal zu verstehen und der negativen Konnotation von Erkrankten dieser Krankheit zu begegnen. Eine Erkrankung, mit der sich viele Menschen nie anfreunden können, eine Krankheit, die so harmlos daherkommen mag, fühlt man sich doch vielleicht nur schlapp, müde, kann sich nicht konzentrieren oder verschiebt Aufgaben auf morgen. Doch irgendwann hat man verlernt, sich zu freuen, die Stimmung ist immer gedrückter, der Alltag fällt immer schwerer, man zweifelt an sich selbst. Körperliche Beschwerden können hinzukommen, Schlaf- oder Appetitmangel sind da häufig. Was damals häufig mit „Du bist nur müde, mach mal Urlaub“ abgefrühstückt wurde, gerät heute immer mehr in unsere Wahrnehmung, wir sprechen darüber, reflektieren die Krankheit und werden immer aufgeklärter.

Und dazu liefert „Kapitel F33.1“ einen ausgezeichneten Beitrag, indem es uns Zuschauer:innen auf textlicher sowie ästhetischer Ebene weiter für Depressionen sensibilisiert und uns vielleicht auch den Spiegel vorhält. Denn wer nicht erkrankt ist, kann diese Gefühle, die die Depression mit sich bringt, wahrlich nicht nachvollziehen und spielt sie vielleicht auch ganz unbewusst herunter. Somit können wir abschließend festhalten, dass „Kapitel F33.1“ als kurzes Kammerspiel einiges richtig macht, uns ein wenig mehr aufklärt, uns textlich abholt und – trotz einiger weniger Längen – begeistert das Theater verlassen lässt.

„Kapitel F33.1“ ist seit dem vergangenen Wochenende abgespielt. Nichtsdestoweniger empfehlen wir einen Besuch der Website des Theaters für weitere Produktionen oder gar mögliche Wiederaufnahmen.


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