Museumsbesuch mal anders: Der Kunstreiniger

Beitragsbild: Flavia Nebauer

Wen interessiert schon die Geschichte hinter dem kleinen Mann? Was hat eine Putzkraft schon zu erzählen? Winzig und unbedeutend. Schwingt nur den Mopp, sei es im Bürogebäude, in der Schule oder im Museum. Überall muss sauber gemacht werden. Was hat das mit Kunst zu tun?

Erstmal gar nichts. Bis man es zu Kunst macht. „Projekt-Il“, die Arbeitsplattform des Schauspielers Alexander Steindorf und der Schauspielerin und Regisseurin Bianca Künzel hat das gemacht. Das Kollektiv der beiden, die auch hinter dem großartigen „Garten Eden“-Projekt des Jungen Schauspielhauses stecken, nutzt hier den öffentlichen Raum als Ort für Kunst und Theater. Aber von vorn.

Das machen wir gerne. Uns Karten kaufen für Projekte, bei denen wir selber nicht genau wissen, was da passiert. Zu Beginn traf sich die Gruppe der Zuschauer im Foyer des Ständehauses in Düsseldorf. Urgesteine wissen das vielleicht, alle anderen nicht: Das Ständehaus war im 19. Und 20. Jahrhundert (bis 1988) ein ständiges Parlamentsgebäude, beherbergte zuerst den Provinziallandtag der Preußischen Rheinlande und war später Tagungsort für den Nordrhein-Westfälischen Landtag. Heutzutage ist das Gebäude Teil der Kunstsammlung NRW und beherbergt die Abteilung „Zeitgenössische Kunst.“

Foto: Nana Franck / Ralf Puder

Das Ständehaus ist bereits von außen ein beeindruckendes Gebäude. Und von innen noch mehr. Eine riesige Halle, die umgeben ist von durchgehenden weißen Wänden mit offenen Fenstern bildet einen mächtigen Innenhof, in dem wir anfangs platznehmen. Einen Falthocker hat jeder Zuschauer im Anschlag, jederzeit kann man sich also hinsetzen, ein mobiles Auditorium könnte man das nennen. Und los geht’s. Es schallt entspannte Chillout-Musik durch die weiten Gänge des Gebäudes, wir wissen nicht, woher das kommt. Plötzlich an einem der Fenster, durch die wir in einen Flur im zweiten Stock gucken können: Eine Putzkraft tanzt vorbei und macht dort ausgelassen singend ihre Runde. Die Musik wandert mit. Von Fenster zu Fenster. Die Putzkraft fühlt sich unbeobachtet, das Publikum lächelt, nimmt die Leichtigkeit auf, mit der der Mann saubermacht. Er wandert weiter. Erreicht den gläsernen Fahrstuhl, betritt ihn, die Türen schließen sich, die Musik verstummt. Der Putzmann tanzt weiter, man sieht es, hört es aber nicht. Ulkiges Bild. Dann kommt er unten im Parterre an, die Türen des Fahrstuhls öffnen sich, die Musik ist wieder da. Er tanzt aus dem Aufzug und erblickt uns. Kurz ist er erstaunt, fragt sich, warum wir denn alle hier sitzen. Noch fragen wir uns das auch. Kurz verwirrt putzt er weiter. Wenn wir schon mal hier seien, sagt er, dann könne er uns ja auch erzählen, wie er hierhergekommen sei. Die Regisseurin Künzel, die selbst ins Stück involviert ist, spielt eine Dame vom Personal des Museums. Sie lässt den Eindruck erwecken, als wüsste sie selber nicht, was vor sich geht.

Die Putzkraft, deren wirklichen Namen wir nicht erfahren, hat Abitur, hat auch studiert, ist aber dann zu einer Putzfirma gegangen, hat sich schon immer für dieses Museum interessiert. Ist scheinbar begeistert von einfach allem, könnte den ganzen Tag nur „glotzen“. Doch das kann doch nicht der einzige Grund sein, denken wir uns. Ist es auch nicht. Aber das sollen wir noch nicht erfahren.

Aus irgendwelchen Gründen finden wir den Reiniger sympathisch. Obwohl wir nicht ganz verstehen, was er uns da alles erzählt. So sympathisch sogar, dass wir mit ihm mitgehen. Unsere erste Station ist die vierte Etage. Direkt unter der Glaskuppel des Gebäudes. Hierher fahren wir mit einem gläsernen Aufzug. Einem Aufzug in den Himmel. Es darf keiner raus. Eigentlich ist hier Baustelle. Im Himmel.  Wirklich. Aber anscheinend kommt das bei unserer Gruppe nicht an. Na gut, aber nicht weit vom Aufzug weggehen. Der Kunstreiniger hat uns allein gelassen. Die Gruppe musste sich aufteilen, weil nicht alle in einen Aufzug gepasst haben, will er mit dem anderen Part die Treppe nehmen. Wir werden begleitet von den beiden Damen, von denen die eine die Finger ganz tief mit im Theaterspiel hatte. Das lässt sie sich aber vorerst nicht anmerken. Als eine Zuschauerin die vermeintliche Museumsmitarbeiterin fragt, ob sie das nicht schon miterlebt hatte, immerhin sei das ja bereits die dritte Vorstellung und ob das immer so konfus ablaufe, antwortet sie kalt, sie wisse von nichts, immerhin würde das begleitende Personal ja jeden Abend wechseln. Puh. Illusion aufrechterhalten.

Seinen Putzwagen ließ er im Aufzug. Und mit ihm seine Musik. Die lief über das Handy und zwei Bluetooth-Boxen. Plötzlich endet die Musik. Eine Prosaerzählung geht los. Sehr metaphorisch das alles, viel Bildsprache. Man kann nicht direkt folgen, muss selber erst einmal mit der Situation klarkommen. Kommt der Reiniger nicht? Wir hören seine Stimme. Geht die Show jetzt weiter, ohne dass alle dabei sind? Diese logistischen Gedanken blockieren das Hirn, wir können uns nicht direkt auf die Erzählung aus den Boxen einlassen. So viel nehmen wir mit: Es scheint irgendwie ein Autounfall passiert zu sein. Es ist die Rede von einem Knall. Der Erzähler ist Taucher, hört den Knall viel früher, weil sich Schall unterwasser schneller verbreitet. Alles sehr verwirrend.

Foto: Nana Franck / Ralf Puder

Es soll nicht die Aufgabe dieser Stückbesprechung sein, wiederzugeben, was genau die Geschichte dahinter war. So viel sei gesagt: Es handelt sich um die Geschichte eines ehemaligen Komapatienten. Das haben wir auch nach dem Hören des zweiten Teils der Erzählung unter der Glaskuppel (mittlerweile bei wunderschönem Sonnenuntergang) nicht ganz verstanden. Das sah wohl auch Bianca Künzel in unseren Gesichtern, als wir wieder mit dem Aufzug hinunter fuhren. Sicherheitshalber fragte sie in der Rolle der mittlerweile von der Putzkraft genervten Museumsaufseherin noch einmal bei uns nach: „Haben Sie das gewusst, dass der im Koma lag?“ Plötzlich fiel dann der Groschen: Unser Kunstreiniger ist der Komapatient. Er erzählt uns hier von seinen Erfahrungen, seinem Sein und Nicht-Seit zwischen zwei Welten, dem Tod und dem Leben. Jetzt macht alles Sinn. Glauben wir.

In einem kleinen Raum sehen wir eine Videoinstallation von Bill Viola, Das Quintett der Erstaunten heißt die. Eine Hochgeschwindigleitskamera filmte fünf in die Kamera blickende Personen eine Minute lang. Eine Frau, vier Männer. Daraus wird dann ein 15-minütiger Film im Realen. Als wir den Raum betreten, halten wir die Projektion für ein Foto, so langsam bewegen sich die Leute. Der Reiniger gesteht, dass es auch ihm so ging, als er sich das Werk das erste Mal ansah. Eigentlich begleiten wir ihn hier in diesen kleinen Raum nur, weil er unter die Sitzhocker gucken muss. Die Teenies kleben da immer Kaugummis drunter. Aber wo wir schon einmal hier sind, kann er uns auch die Geschichten der Leute erzählen. Das sind nicht die Geschichten der wirklich Abgebildeten. Auch nicht die Geschichten, die sich Bill Viola vielleicht ausgedacht hat. Das sind die Geschichten des Kunstreinigers. Seine eigenen kreativen Gedanken zu der Installation. Bei der Kaugummijagd muss man viel Zeit zum Nachdenken haben, denkt man sich. Zwei Männer sind Polizisten, einer ein militanter Radfahrer, dann noch ein Typ, der was von der Frau will, welche das aber nicht merkt. Ein Querschnitt der Gesellschaft? Mitnichten. Alles Menschen, die irgendwie teilnahmen an der die Reinigungskraft betreffenden Unfallsituation. Aber so bunt und mitreißend ausgeschmückt. Wir kennen diese Herangehensweise von der Arbeit mit unseren Jugendlichen. Ausgangsmaterial (in diesem Fall die Installation) ohne Vorwissen ansehen und sich Geschichten ausdenken, die zum Gesehenen passen könnten. Einen wirklichen Bezug zu den Werken  im Museum oder deren Künstlern übrigens haben die Geschichten  des Reinigers nie wirklich. Aber das missen wir auch nicht sonderlich.

Intensive Momente kreiert Steindorf immer wieder mit seinen Geschichten. Im ehemaligen Plenarsaal des Ständehauses ist eine nicht direkt durchsichtige Kunstinstallation aufgebaut. Überall sind Holzhocker in Glaskästen arrangiert, alte Sony-Fernseher stehen herum, zeigen nicht gleich Identifizierbares, es liegen Kabel im ganzen Raum. In der Mitte eine große begehbare Box, an deren Innenwänden der alte Boden des Plenarsaal aufgehängt worden ist. Über Boxen hört man Autobahngeräusche. Das Kunstwerk ist hier Das Deutschlandgerät von Richard Mucha. Die Rede ist von einer Maschine, die entgleiste Züge wieder zurück auf die Gleise hievt.

Die Reinigungskraft erzählt uns von einer Art Warte-Bahnhof im Nebel, hier wird nämlich nebelfeucht gewischt. Hier werden wartende Leute rangiert wie Züge. Warten ist generell etwas Tolles. Warten und Langeweile. Das ist befreiend, das bringt kreative Einfälle. Sicherlich nicht ganz ohne Augenzwinkern deutet er hier auch auf die Kunst, die Künstler hier hätten echt viel Zeit mit Warten verbracht. Kunst scheint generell sowieso nicht greifbar. Sogar ein Feuerlöscher oder ein Wischmopp könnten Kunst sein. Berührend wird die Geschichte über das Warten hier, weil wir wissen, dass der Reiniger im Koma lag. Als er uns vom Wächter des Himmelstores, dem heiligen Petrus erzählt, den er mit seinem hochgehaltenen Wischmopp als Krummstab nachspielt, im Dialog mit sich selber, dabei den Wischmopp nach unten gesenkt, wird auf eine sehr humoristische Art und Weise das Zwischenspiel zwischen Tod und Leben deutlich gemacht. Heute entscheidet nicht mehr Petrus, wer in den Himmel kommt oder nicht, das machen jetzt die Menschen selbst. Und über den Wartebahnhof, wo auch Petrus weilt, haben die Menschen eine Autobahn gebaut. Die Religion, der Glaube hat also an Bedeutung verloren. Menschen stellen sich über Gott und machen das alles lieber selber. Bei einem, der im künstlichen Koma liegt, ist dies tatsächlich auch schon lange keine Glaubensfrage mehr.

Wir sind beeindruckt, mit welchen winzigen Mitteln Steindorf und Künzel uns hier Gänsehaut spüren lassen. Die Location, das Ständehaus, wurde großartig eingebaut und spielt fast schon selbst eine schauspielende Rolle, ist viel mehr als nur eine Bühne. Die mächtigen Gänge, die Akustik, die durchgehende Farbe der Reinheit und die Kunstwerke, die Steindorf mit in seine Erzählungen einbaut, bilden ein erinnerungsträchtiges Gesamtbild und entführen den Zuschauer nicht nur einfach in ein Museum, sondern in eine ganz eigene Welt. Der Kunstreiniger trägt einfach nur eine grüne Arbeitshose, trägt ständig seinen Wischmopp und Mülltüten mit sich, ist aber viel mächtiger als einfach nur eine Reinigungskraft. Es tut so gut, jemanden vor sich zu haben, der sich so sehr öffnet. Natürlich bekommen wir seinen Background erst später von ihm eröffnet, haben bereits Hinweise bekommen, sind aber am Ende begeistert von seiner Ehrlichkeit. Da steht ein Mensch vor uns, der viel gesehen und erlebt hat und erzählt uns seine Geschichte. Das hervorragende Schauspiel Steinbachs tut sein Übriges: er spricht mit vielen „ähms“ und „öhms“, blickt manchmal verunsichert durch die Gegend, was die Rolle viel authentischer macht. Er erzählt uns ja nur etwas, steht gar nicht auf einer Bühne im Scheinwerferlicht. Schon fast kumpelhaft, man hätte dieses Gespräch teilweise in der Bar führen können, bei einem kühlen Bier.

Am Ende führt uns der Kunstreiniger in den zweiten Stock, dort, wo wir ihn anfangs von unten beobachten konnten. Hier sollen wir uns einen Rettungsplan ansehen, wie er in diesem Museum zu hunderten an den Wänden hängt, verstehen nicht genau, was daran besonders ist, bis unser Führer uns daran seinen ganz persönlichen, eigenen Rettungsplan zeigt. Sein Kind hat ihm ein Bild gemalt, ganz groß „Papa“ draufgeschrieben. Mittlerweile haben wir auch Brisanteres über den Unfall erfahren. Im anderen Fahrzeug saßen drei junge Leute, die er vielleicht umgebracht hat. Wer den Unfall letztendlich verursacht hat, wird nicht gesagt. Die Polizei ermittle wohl in großem Umfang. Man fragt sich, wer das Opfer des Unfalls war. Das Bild hängt versteckt hinter dem Rettungsplan, der nüchtern die Notausgänge und Feuerlöscher auf dieser Etage zeigt. Das Kind und die Kunst bringen ihm Halt. Die Familie ist da, wenn einem einmal alles über den Kopf wächst. Als Vater weiß man, wofür man lebt, wenn man ein Kind hat, das man lieben und für das man sorgen muss. Für einige ist das sicher kitschig. Wir haben uns aber irgendwie mitreißen lassen. Das war so nah. Das rührt zu Tränen.

Die Reinigungskraft führt uns an die Fenster, wir dürfen noch ein letztes Mal staunen, ein letztes Mal in den Innenhof blicken, der so mächtig groß ist. Einige Zuschauer schießen mit ihren Smartphones Fotos von einer weißen Wand. Die scheinen besonders zu staunen. Der Reiniger selber verabschiedet sich kurz, muss noch etwas erledigen. Wir sehen von oben, wie er die Treppen herunter geht und sich in der Mitte des Innenhofes verbeugt. Wir werden dadurch irgendwie herausgerissen, ach ja, das war ja Theater. Wir hätten gerne noch länger zugehört, waren schon fast etwas enttäuscht, dass 80 Minuten Spielzeit schon vorbei waren.

Die letzte Pose, eine ganz große. Nicht nur die Verbeugung. Zum einen eine Hommage ans Publikum. Wir blicken von oben auf den Schauspieler herunter, werden auf ein Podest gestellt, das ist – lässt man Studiobühnen außer Betracht – selten der Fall. Wir fühlen uns als Zuschauer sehr geehrt. Zum anderen auch die Perspektive. Da unten sieht der Mann so klein aus. So winzig und unbedeutend. Das macht schon fast wieder nachdenklich und traurig. So viel Geschichte steckt in einem einzigen Leben und ist dann doch nur so winzig. Das regt zum Nachdenken an.

Wir sind uns einig: Wir haben sicherlich nicht alles verstanden, vielleicht auch ein Paar Dinge falsch gedeutet, aber: Wir haben etwas Tolles gesehen, was weit über das Prädikat „Mal was Anderes“ hinausgeht und wünschen uns viel mehr davon.

Leider war dies die letzte Aufführung von „Der Kunstreiniger“. Dennoch möchten wir dem Leser  Projekt-Il und auch das Asphalt-Festival ans Herz legen, das noch bis zum 17.07.2016 Theater, Musik, Tanz, Literatur und Kunst an außergewöhnlichen Orten vorstellt und hoffen, dass dieses Festival uns noch lange erhalten bleibt.

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