Bitte stören! Warum? – Das RLT zeigt Menschen im Hotel

Beitragsbild: Björn Hickmann / Stage Picture
Text: Marius Panitz (marius.panitz@theaterwg.de)

Dies vorneweg: Theaterstücke mit mächtig viel Text mögen wir nicht. Das kann man anders sehen, das ist persönliches Geschmacksempfinden, wir unterstellen dem Theater des 21. Jahrhunderts einfach, auch komplexere Dialogsituationen reduzieren und diese über eine eher physischere Darstellung zu vermitteln, das gesprochene Wort sollte da nur die Kür sein. Aus diesem Grund besuchen wir Romanadaptionen immer mit gemischten Gefühlen und Magengrummeln in der Hoffnung, es gibt eine ausgewogene Darstellung von Verbalem und Nonverbalem, entscheiden sich Theaterregisseure doch häufig gerne dazu, ihre Schauspieler kürzungslos ganze Wälzer auswendig lernen und rezitieren zu lassen.

Gestern lud das Rheinische Landestheater Neuss (RLT) erneut zur Premiere. In anstrengenden Proben hat man für uns zubereitet und serviert: Die Bühnenadaption von Vicki Baums Kolportageromans mit Hintergründen: Menschen im Hotel aus dem Jahr 1929. Neben den eingangs beschriebenen gemischten Gefühlen aus Furcht vor zu viel Text, schwang zugleich hierbei auch sehr viel Vorfreude mit. Zeigte doch RLT-Regisseur Sebastian Zarzutzki bereits 2016 mit seiner mehr als gelungenen One-Woman-Version von Irmgard Keuns Das kunstseidene Mädchen, dass die Neusser ein Händchen für den Neue Sachlichkeit-Stoff haben. Auch die Romanbearbeitung der letzten Spielzeit, Die Jüdin von Toledo, mit Abstand ebenfalls sehr textbelastet, aber dennoch begeisternder historischer Stoff, der einen spannenden Theaterabend bot, hat uns Freude bereitet. Bei diesen Erwartungen stellt sich die Frage: Hat uns das gestern Gesehene genauso aus den Sitzen gerissen, wie die genannten Vergleichsarbeiten?

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Foto: Björn Hickmann / Stage Picture Katharina Dalichau (Grusinskaja), Hubertus Brandt (Baron Gaigern), im Hintergrund: Stefan Schleue (Kringelein), Henning Brand (Multi-Instrumente), Pablo Guaneme Pinilla (Portier Senf), Radek Stawarz (Violine), Teresa Zschernig (Flämmchen), Isabelle Marchewka (Harfe), Peter Waros (Generaldirektor Preysing)

Ohne große Spannung aufzubauen fällen wir unser Urteil gleich zu Beginn: Nein, hat es nicht. Allerdings, und das ist unser Problem, wissen wir noch nicht genau, was uns gefehlt hat, damit wir uns für die Neusser Version von Menschen im Hotel begeistern. Deshalb ist dies hier weniger eine Rezension, denn eher eine Suche nach möglichen Erklärungen, warum der gestrige Theaterabend so sehr an uns abprallte wie Kugeln an Superman.

In ihrer Vorlage nimmt Autorin Vicki Baum sechs Einzelschicksale, vermengt sie zur Zeit der Weimarer Republik in einem Berliner Luxushotel, gibt noch einmal ein bisschen Verzweiflung hinzu, würzt mit Melancholie, rührt kräftig um und serviert dieses Potpourri ihren Lesern dann am Ende, ob und wie es ihnen schmeckt, ist da zweitrangig. Diesen Spirit hat die Bühnenversion mitgenommen. In der Lobby des Hotels lernen wir die Tänzerin Grusinskaja kennen, die die beste (Bühnen-)Zeit ihres Lebens bereits hinter sich gebracht hat, den vom Krieg durch ein entstelltes Gesicht gezeichneten Dr. Otternschlag, der täglich über seinen Suizid nachdenkt, den verarmten Baron Gaigern, der sich mehr als Dieb und Betrüger durchzusetzen versucht. Ins Hotelgetümmel hinzu kommt der totkranke Buchhalter Herr Kringelein, der sich ein teures Zimmer wünscht, er will alle Verbindungen zu seiner Vergangenheit kappen, um vor seinem Ableben noch eine schöne Zeit zu haben. Dann ist da noch der Generaldirektor Preysing, der für geschäftliche Verhandlungen ins Hotel gekommen ist und dort seine Frau mit seiner Sekretärin Flämmchen zu betrügen versucht. Verbunden werden diese Figuren mit dem Hotel durch den Portier Senf.

Auf eine Darstellung, welche Vernetzungen und Verstrickungen hier zwischen den verschiedenen Charakteren zustande kommen, verzichten wir in diesem Text, dies würde dem Zuschauer des Stückes zu viel vorwegnehmen.

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Foto: Björn Hickmann / Stage Picture Hubertus Brandt (Baron Gaigern), Teresa Zschernig (Flämmchen), Stefan Schleue (Kringelein)

Die Neusser Bühne lässt Ausstatterin Marina Stefan nicht im Ansatz aussehen wie ein Hotel. Unregelmäßig verteilt sehen wir Kugellampen, einige Stühle, im hinteren Bereich eine runde Leinwand auf einem Podest, davor eine Treppe. Mitten auf der Bühne auf einer hohen traversenartigen Metallsäule steht ein sich drehendes Leuchtelement, das an Neonreklame erinnert, wie man sie auch aus den Golden Twenties kennt. Es ist klar, die Neusser machen das, wofür wir sie kennen: Sie reduzieren ihre Bühne und dieser Gedanke ist nicht verkehrt. Wo die aktuell und parallel laufende Düsseldorfer Version von Menschen im Hotel auf ein naturalistisches Bühnenbild setzt, in dem verschiedene Räumlichkeiten des Hotels durch die Kulisse deutlich zu erkennen sind, abstrahiert das RLT den Bühnenraum und lässt ihn irgendwie zugleich alles und auch nichts sein, was den Szenenwechsel der verschiedenen Settings natürlich einfacher macht, dem Zuschauer in seiner Vorstellungskraft aber auch mehr abverlangt. Nach einer gewissen Zeit der circa 150 Minuten langen Vorstellung (eine Pause gibt’s) verfeinden wir uns arg mit einem Kulissenelement, der in der Mitte stehenden Säule. Ihr Sinn erschließt sich uns nicht ganz und wir empfinden sie eher als störend, steht sie doch bei im hinteren Bereich gespielten Szenen einfach im Sichtfeld und trägt sie zudem ganz oben noch einen Scheinwerfer, der wegen des sich drehenden Kopfelements uns als Zuschauer je nach Position unangenehm in die Augen leuchtet. Wirklich ins Spiel mit eingebracht wurde das Element nicht, daher empfinden wir es eher als lästigen (und vermutlich auch teuren) Bühnenstaubfänger.

Regisseurin Marlene Anna Schäfer entscheidet sich bei ihrer Umsetzung dafür, die Schauspieler zugleich auch zum Erzähler des Romans werden zu lassen. Dies macht unsere eingangs beschriebene Befürchtung wahr: Viel Text! Sehr viel Text! Manchmal ist es so, dass die Handlungen auf der Bühne gar nicht ausgeführt, sondern eben nur vom Narrativ übernommen werden. Häufig konnten wir ruhigen Gewissens die Augen schließen und das Theaterstück als Hörbuch auf uns wirken lassen ohne wirklich etwas zu verpassen, denn auf der Bühne standen ja nur die Schauspieler und erzählten, wirklich gehandelt haben sie nicht. Da musste man in der knapp zweistündigen Inszenierung, die man auch getrost manchmal als szenische Lesung beschreiben kann, nach herausstechenden Elementen suchen, die das Theaterstück von einem Hörbuch abheben. Diese Elemente allerdings waren dann auch sehr ansehnlich.

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Foto: Björn Hickmann / Stage Picture Peter Waros (Generaldirektor Preysing), Pablo Guaneme Pinilla (Portier Senf), Stefan Schleue (Kringelein), Hubertus Brandt (Baron Gaigern), Jan Kämmerer (Dr. Otternschlag), Katharina Dalichau (Grusinskaja), Teresa Zschernig (Flämmchen)

So gehen Dr. Otternschlag und Herr Kringelein zu Beginn der Handlung ins Theater, wofür die Schauspieler einen pfiffigen Ebenenwechsel vollziehen, verlassen sie doch einfach die Bühne und setzen sich ins Auditorium und schauen sich die Bühnenhandlung ihrer Kollegen als Zuschauer an.

Auch der Besuch Kringeleins und Gaigerns bei einem Boxkampf oder im Spielkasino wird durch das Ensemble teilweise chorisch mitgetragen und dynamisch gesprochen, Spieleinfälle, die uns wirklich gut gefallen und uns auch ein wenig wachgerüttelt haben aus den ansonsten eher langatmigen Textpassagen.

Eine weitere positiv hervorzuhebende Komponente ist die Live-Musik, eine kleine Band bestehend aus der Harfenistin Isabelle Marchewka, den Violinisten Radek Stawarz beziehungsweise Johannes Platz sowie Henning Brand am Keyboard sowie einer Bassdrum. Die Musiker verstehen es, die Stimmungen im Hotel wiederzugeben, untermalen das Gespielte perfekt und bilden auch in den (leider viel zu seltenen) genialen Gesangsmomenten, einer neuen eher swingenden Vertonung von Der gute Kamerad sowie Elementen aus Döblins Berlin Alexanderplatz (wenn wir uns da nicht verhörten), mit den Schauspielern eine tolle Harmonie.

Auch die runde Leinwand in der Mitte wurde mit eingebracht, häufig sahen wir Projektionen detaillierter Close-Ups der Schauspieler, mal Augen, mal Münder. Hin und wieder, beispielsweise als Baron Gaigern einen Diebesplan austüftelt, sogar eine live lippensynchron besprochene Projektion. Zumindest war das der gute Gedanke dabei. Leider treffen die Schauspieler die Momente der Lippenbewegungen auf der Projektion häufig nicht, es wirkt nicht detailliert und ein wenig unsauber geschludert, was diesen Effekt, der ein spannender Einfall war, leider zunichte macht.

Generell wirkte das Ensemble der gestrigen Premiere um Katharina Dalichau (Grusinskaja), Teresa Zschering (Flämmchen), Peter Waros (Preysing), Jan Kämmerer (Dr. Otternschlag), Hubertus Brandt (Baron Gaigern), Stefan Schleue (Kringelein) und Pablo Guaneme Pinilla (Portier Senf) nicht so fit, wie wir dies von den Neussern kennen. Teilweise spielten die Darsteller sehr unkonzentriert, verhakten sich im eigenen Text, fielen Mitspielern ungeplant ins Wort und präsentierten uns eher auswendig gelernten Text als wirklich gespielte Rollen. Gerade beim gewählten erzählenden Ansatz waren diese Fehler sehr leicht bemerkbar. Zudem ist es aber auch eben dieser Ansatz des nüchternen Erzählens, der den Schauspielern gar nicht wirklich die Möglichkeit bietet, aus sich herauszukommen und zu experimentieren. In der Gesamtschau haben wir zudem das Gefühl, dass dieses – für Neusser Verhältnisse eher große – Ensemble sich noch nicht gänzlich gefunden hat. Das Stück wirkte noch nicht zu Ende geprobt, die Schauspieler scheinen das für diesen spielerischen Ansatz notwendige Synergielevel noch nicht erreicht zu haben. Dennoch blicken wir zuversichtlich Richtung weiterer Aufführungen, denn wir glauben, das Potenzial, dass sich all dies noch einrenken wird, ist definitiv gegeben.

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Foto: Björn Hickmann / Stage Picture Katharina Dalichau (Grusinskaja), Henning Brand (Multi-Instrumente)

Auf dem Plakat der Neusser Inszenierung von Menschen im Hotel sieht man ein Türschild, wie wir es aus Hotels kennen, normalerweise bedruckt mit „Bitte nicht stören“, bei den Neussern steht ganz bewusst: „Bitte Stören!“. Wir allerdings fragen uns: Wieso sollen wir stören? Was gehen uns diese Einzelschicksale an? Ja, es ist traurig, wenn eine Tänzerin den Zenit ihrer Karriere erreicht und sich von der Bühne abwenden muss, wenn ein Mann eine Todesdiagnose bekommt oder ein Baron kein Geld hat und sich mit Gelegenheitskriminalität über Wasser halten muss. Wir als Zuschauer aber hatten in keiner Minute des Stückes (und auch in keiner Minute während der Lektüre des Romans) das Verlangen, für irgendjemanden der Menschen im Hotel Sympathie zu empfinden. Gerade das ist für uns ein Hotel, und das beschreibt das Werk ja auch selber: „Das Hotel ist ein dummes Kaff!“ Und in diesem Kaff wollen wir einfach nicht wissen, wer welche Leichen im Keller hat. Da wird es auch nicht tiefgründiger oder philosophischer, wenn man den Satz „Und so ist es mit dem Leben!“ diesem Kaff-Gleichnis anhängt. Gerade die Anonymität ist es doch, die das Hotel ausmacht. Es wohnen zumeist fremde Menschen Tür an Tür und obwohl der Mensch neugierig und man möchte fast sagen voyeuristisch veranlagt ist, interessieren ihn die wirklich tiefgründigen Probleme anderer Menschen nicht. Oder haben Sie auf die Frage „Wie geht es Ihnen?“ jemals schon einmal ehrlich geantwortet, gerade, wenn es Ihnen schlecht ging?

So stellt sich uns die Frage nach der Message, die wir mitnehmen: Was will uns Vicki Baum sagen? Was will das RLT daraus machen? Spannend ist die Klammer, die die Neusser um ihr Stück setzen. Sie starten mit Stimmgewirr, alle Darsteller stehen auf der Bühne und reden gleichzeitig. Und genauso endet das Stück. Bekommen wir also wirklich nur einen kleinen, den persönlichen Voyeurismus befriedigenden Blick hinter fremde Hotelzimmertüren? Für zwei Stunden wird das komplexe und undurchdringliche „Sozialsystem Hotel“ entschleunigt und für uns mundgerecht seziert? Bekommen wir durch die Allmacht des auktorialen Erzählers oder eben des Theaterzuschauers auf dem Silbertablett serviert, was uns ja eigentlich gar nichts angeht? Und reflektieren wir dann selber, ob dies uns wirklich hätte interessieren sollen oder es hier nur um die Befriedigung eines Neugierdetriebs geht und wir auch durchaus ein erfülltes Leben führen könnten, wenn wir Hotelzimmertüren so lassen, wie wir sie meist vorfinden: verschlossen?

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Foto: Björn Hickmann / Stage Picture Teresa Zschernig (Flämmchen), Stefan Schleue (Kringelein), Hubertus Brandt (Baron Gaigern), Katharina Dalichau (Grusinskaja)

Wir wissen es nicht und ziehen, vielleicht noch etwas Nachdenkzeit über das gestern Gesehene benötigend, unserer Wege. Vielleicht sehen wir die Hotels, die wir zukünftig beziehen, nun mit ein wenig anderen Augen, vermuten hinter jeder Tür eine düstere Story. Vielleicht aber auch nicht.

Wer sich für Romanadaptionen mit viel Text und cooler Livemusik, für die Geschichten der Menschen im Hotel und auch für die Progression des Stückes interessiert, dem legen wir einen Vorstellungsbesuch sehr ans Herz. Über weitere Eindrücke, die wir vielleicht gestern gar nicht sammeln konnten, freuen wir uns jederzeit gerne! Das Stück wird in Neuss noch sieben Mal gespielt. Infos und Tickets gibt es wie immer auf der Website des Theaters.

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