Text: Marius Panitz (marius.panitz@theaterwg.de)
Kennen Sie diese Leute, die, wenn sie einen Raum betreten, in alle Richtungen Sympathie ausstrahlen? Man sieht sie und hat sofort gute Laune? Und man unterhält sich und die Zeit fliegt so einfach davon? Zweifelsohne können wir attestieren, dass André Valente zu diesen Sympathiegaranten gehört.
Eigentlich ist André Lehrer am Düsseldorfer Goethe Gymnasium. Das Theater hat er dennoch voll im Blut und weiß diese Leidenschaft und seinen Beruf sehr gut zu verbinden. Der Blick in die Jugendtheaterlandschaft, den auch wir gerne wagen, bestätigt dies immer mehr: Lehrer, Pädagogen und Theatermacher können gemeinsam vieles erreichen: Theaterprojekte mit Jugendlichen, besonders an Schulen sind sehr beliebt. Allerdings haben Lehrer eben auch keine Theaterausbildung und können daher vieles kaputt machen, wenn die Pauker vergessen, dass es beim Schülertheater eben um die Schüler geht und nicht darum, selber als Spielleiter oder gar Regisseur, am besten noch ganz oben, über dem Stücktitel, in irgendeinem Programmflyer zu stehen.

Über die Wichtigkeit der Rolle des Schülers im Schultheater, über ein eingestaubtes Schulsystem, den Lehrerberuf als solchen und darüber, wie das Schülertheater ein bisschen zur Lösung des Problems beitragen kann und was ein Neuseelandurlaub damit zu tun hat, habe ich im mit drei Stunden bisher längsten Interview der Blog-Geschichte mit André gesprochen.
André lud mich ein in seine Heimatstadt Wuppertal, wo ich mich in einem sehr süßen Café im Luisenviertel mit ihm zum Interview traf. Gerade Vater geworden, befindet sich der Sport- und Englischlehrer in Elternzeit und hat daher ein wenig Leerlauf mitgerbacht, um gemeinsam mit mir über Theater und Schule zu sinnieren.
Eine formale Ausbildung im Theaterbereich als Schauspieler oder Theaterpädagoge hat André nicht. Wenn man ihn aber Theater machen sieht, merkt man schnell, dass er ein gewisses natürliches Talent mitbringt, ein Gespür und einen Blick für die richtige Ästhetik und das richtige Spiel.

Die ersten Theaterschritte macht er im Studium an der Universität zu Köln bei seinem Dozenten Richard Aczel, neben seiner Lehrtätigkeit am Englischen Seminar ein weit über die Grenzen der Domstadt bekannter Theatermacher und Gründer der an der Uni ansässigen überaus erfolgreichen englischen Theatergruppe Port in Air, die auch wir unseren Lesern bereits ans Herz legten.
Hier lernte André als Schauspieler alles, was er als späterer Spielleiter seiner Jugend- und Schultheaterprojekte in tolle Bilder umsetzen konnte: Ein wahrlich außergewöhnliches Gespür für theatrale Ästhetik und die Wichtigkeit des Spielers auf der Bühne.
Die Schultheaterlandschaft im Wandel?
Längst gehört eine Schultheatergruppe nicht mehr zu reformpädagogischen Konzepten. Kaum eine Schule gibt es, die keine Theatergruppe, einen Literatur- oder DuG-Kurs, eine Theater-AG oder einen Differenzierungskurs Theater hat. Die Namen dieser Konzepte lassen sich sicherlich bis ins Unendliche fortsetzen. Und so wie mit den Namen, ist es auch mit den Gruppen selbst. Dass das nicht immer gut und förderlich für die Schüler ist, hat André früh erkannt: „Zu viele Leute, die Schülertheater machen, haben keine Ahnung, was diese Art von Theater eigentlich bedeutet. Nicht jeder, der mal im Studium Faust lesen musste, kann auch direkt eine Theater-AG leiten, das bilden sich, glaube ich, viele Leute ein.“
André vertritt hier eine ganz klare Linie, die auch wir nur unterstreichen können: „Ich finde es wichtig, dass Schüler hierfür nicht benutzt und ausgenutzt werden, damit die Leiter sich profilieren, das finde ich sehr problematisch.“ Und diese Beobachtungen machen wir noch immer zu häufig. Ich selber gehöre normalerweise zu der Art Theatergänger, die sich alles, was ihnen vorgesetzt wird, ansieht. Doch neulich, da musste ich eine Schultheatervorstellung in der Pause verlassen. Denn hier instrumentalisierte ein Lehrer seinen über 40 (!) Schüler großen Kurs, mit dem er eine Art Musical inszenierte, nur, um am Ende selber als Star im Applaus der Zuschauer zu stehen. Dass er hierfür seine Schüler in aberwitzige Kostüme steckte, sie von ihm geschriebene Text aufsagen ließ, den sie nicht zu sprechen verstanden und sie dabei zu großen Witzfiguren werden ließ, waren Leichen, über die der Pädagoge nur zu gern zu gehen bereit war. Ich konnte nicht anders, ich musste das sinkende Schiff verlassen…

Auch bei verschiedenen Schultheateraufführungen und -festivals hat André bereits ein solches Spielleiterverhalten beobachtet. Zwar nicht immer in diesem Ausmaß, wie ich es oben beschreibe, aber doch spricht er hier noch einmal mahnende Worte: „Natürlich ‚nutzt‘ man die Schüler, sie sind halt das ‚Material‘, damit arbeitet man, man nutzt aber eher Chancen, ihre Potenziale und Fähigkeiten. Der eine kann Klavier spielen, die nächste kann tanzen, das baue ich dann in das Stück ein, aber ich nutze keinen Schüler aus um etwas Tolles zu produzieren, damit hinterher alle kommen und mir auf die Schulter klopfen.“
Es ist sicher überflüssig, zu erwähnen, dass auch so etwas wie Castings aus Andrés Sicht im Schultheater in der Regel nichts verloren haben: „So etwas habe ich noch nie gemacht. Bisher haben wir einfach ein Treffen ausgemacht und wer kam, der kam. Bis jetzt hat das immer geklappt. Wenn man dann Schüler hat, bei denen sofort deutlich wird, dass die den Mund nicht aufbekommen, dann ist das Theater doch gerade für diese genau das Richtige, um eben das zu lernen! Bei einem Casting flögen die raus. Zum Teil habe ich so schöne Erfahrungen gemacht mit Schülern, aus denen ich am Anfang kein Wort herausbekommen habe. Wenn man dann nach einiger Zeit sieht, die stehen jetzt nicht mehr alleine in der Ecke, sondern reden nun auch mit fremden Leuten und sind viel offener, dann weiß man doch, dass man etwas richtig gemacht hat.“
Die Bühne, da stimmen sicher viele Theatermenschen zu, ist ein heiliger Ort. Nicht weniger für André. Dies hat er bereits früh von Richard Aczel bei Port in Air gelernt. Da wird er dann – das kann man sich bei ihm eigentlich gar nicht vorstellen – auch schon mal ein bisschen böse: „Wenn wir eine Übung machen und jemand etwas dabei ins Lächerliche zieht, es nicht ernst nimmt, dabei nur lacht, da reagiere ich auch ein bisschen allergisch, also für meine Verhältnisse. Das habe ich auch so bei Port in Air gelernt, die Bühne ernst zu nehmen. Theater darf lustig sein, es soll Spaß machen, aber dennoch soll man zu jeder Zeit das Handwerk und den Raum Bühne ernst nehmen, das hat er verdient.“
Andrés Arbeitsweise ist eine, die im wahrsten Sinne des Wortes Schule machen sollte. Bei Richard Aczel hat er gelernt, nicht zu sehr produktorientiert zu arbeiten, eher experimentell. Für das Schultheater ist eine gesunde Mischung aus beiden Herangehensweisen gesund, denn am Ende freue sich Schüler natürlich, ein Produkt in der Hand zu haben, etwas geschafft zu haben. Aber zu Beginn der Arbeit sollten sie erst einmal herauszufinden, was der Körper so alles kann und vor allem, egal wie erfahren ein Schauspieler ist, zu Beginn erst einmal wieder mit den Basics anzufangen: „Jeder Musiker übt Tonleitern. Ein Konzertpianist muss die nicht mehr unbedingt üben, um sie zu beherrschen, er übt sie, weil er immer zurück zu den Basics geht. Und im Theater ist es eben besonders die Körperarbeit, das Erlernen des richtigen Gehens und Stehens. Wenn jemand so eine Arroganz entwickelt und meint, er muss keine Tonleitern üben und könne direkt Rachmaninow spielen, an so einer Einstellung habe ich gar kein Interesse. Deswegen suche ich in den Projektbeschreibungen auch immer experimentierfreudige, offene Schüler, die einfach Bock haben, etwas zu machen. Ob die schon einmal Theater gespielt haben oder nicht, das ist mir völlig egal. Manchmal ist das sogar besser, wenn sie keine Erfahrung haben.“

Zwar ist André als junger Lehrer eigentlich noch sehr frisch im Schultheater-Business, doch macht er mir im Interview sehr schnell deutlich, dass er diese Umgebung sehr gut analysieren kann und sie dadurch richtig verstanden hat. Allerdings, so erzählt er selber, sind es manchmal auch sehr offensichtliche Erkenntnisse, die einem kommen, wenn man auf Festivals mehrere Schultheaterproduktionen „nebeneinander“ sehen kann. So fiel einst einer seiner Schülerinnen auf, was viele Schul- und Jugendtheatermacher eigentlich gar nicht so sehr wahr haben wollen: „Letztens meinte eine Schülerin, 14 Jahre, bei einem Festival zu mir: ‚Die Stücke sind sich alle ja schon sehr ähnlich!‘ – Und da hatte sie recht.“ André weiß hierbei auch sehr leicht zu erklären, woran das liegt: „Viele Spielleiter lesen alle die gleichen Bücher, machen alle die gleichen Fortbildungen, besuchen alle die gleichen Workshops, machen alle die gleichen Übungen.“ Mit Blick, besonders auf die Lehrerausbildung, ist ein Bezug auf das Schultheater an den meisten Universitäten noch immer Mangelware. Deshalb schließen sich Vereine zusammen und bilden Kollektive, in denen sie interessierten Lehrern und Lehrerinnen, aber auch Lehramtsanwärtern entsprechende Kenntnisse in Form von Workshops oder Buchpublikationen näherbringen. Festivals wie die Maulhelden oder die Maskerade nehmen die Lehrenden immer mehr in den Programmkanon auf, bieten Formate wie Lehrerworkshops oder das „Nachgespielt“ an, in denen die Spielleiter sich untereinander austauschen können um so gegenseitig von sich zu lernen, mittlerweile springen auch die Profitheater auf den Zug auf und lassen ihre TheaterpädagogInnen Workshops und Arbeitsgruppen entwickeln, die interessierten Besuchern ebenjenes theaterpädagogisches Handwerkszeug an die Hand geben. Dennoch haben sich hier anscheinend gewisse Normen etabliert, die alles irgendwie ähnlich aussehen lassen, was zuerst nicht verkehrt ist. Nichts desto trotz sollte man den Mut haben, auch seinen eigenen Einfällen zu folgen und sich dieser Norm, die sich etabliert zu haben scheint, entgegenzustellen: „Wenn man dann mal was anderes macht, da herrscht auch so eine gewisse Verschlossenheit gegenüber Neuem und Experimentierfreude. Da wird dann mal schnell die Nase gerümpft.“ Ob er dabei alles richtig macht und wer überhaupt im Theater oder generell in der Kunst beurteilen darf, was richtig ist oder nicht, das weiß auch André nicht. Rückblickend auf seine bisherige Jugendtheaterarbeit reflektiert er sehr objektiv: „Ich habe viel falsch gemacht, am Anfang, was auch wichtig war. Trial and Error. Man startet erneut und versucht dann, die Dinge nicht mehr falsch zu machen. Ich hatte im Grunde genommen überhaupt keine Ahnung, was ich da mache. Klar: ich habe selbst Theater gespielt und habe dann mit Übungen angefangen.“ Auch ich maße mir nicht an, zu urteilen, was richtig oder falsch ist. Doch kann ich, der schon einige Arbeiten von André auf der Bühne sehen durfte, zumindest subjektiv behaupten, dass er mit dieser Einstellung sehr ansehnliche Theaterarbeiten produziert.
Diese Kollision der alt eingesessenen Ästhetik im Schultheater mit neuen, man will fast sagen, avantgardistischen Gedanken, vermutet André darin, dass manch ein Spielleiter seinen SchülerInnen einfach zu wenig zutraut oder einfach nicht die Energie hat, sich mit ihnen ausführlich, vielleicht weit über die Arbeitszeit und das Stundendeputat hinaus zu beschäftigen: „Es gibt Leute, die behaupten, mit Schülern kann man beispielsweise keine klassischen Texte aufführen, fertige Stücke, Faust, was weiß ich. Wer inszeniert mit Schülern denn solche Vorlagen? Es sind heutzutage alles irgendwie Eigenproduktionen. Jeder hat seine eigene Handschrift, aber natürlich ähneln sich die Stücke. 14- oder 15-Jährige haben einfach in der Regel die gleichen Sorgen und Probleme: Sexualität, Anerkennung in der Gruppe, Zukunftsängste, Druck in der Schule – dazu habe auch ich mehrere Stücke gemacht. Das ist auch okay, das ist auch gut und das ist auch spannend, das zu beleuchten, gerade für die Schüler. Das ist ja fast schon ein therapeutischer Prozess.“
Dennoch ist dies kein Grund, sich nicht mit komplexerer Materie zu beschäftigen. Daher vermutet André auch in (naher?) Zukunft eine Trendwende. So glaubt er einen Rückgang der Eigenproduktionen zu erspüren und einen stärkeren Ausschlag der Vorlageninszenierungen im Schultheater, hat dabei aber einen ganz klaren Wunsch: „Irgendwie habe ich das Gefühl, dass im Moment eine Sättigung da ist von diesen Jugendstücken. Und auch Kollegen haben gesagt, sie fänden es echt mal cool, wenn mal wieder so ein Stück gemacht wird, das man auch in der Oberstufe lesen muss, was weiß ich, was von Schiller oder Shakespeare. Was ich aber glaube, ist, dass sich da einfach kaum einer rantraut, weil das einfach extrem schwer ist. Es darf ja nicht nüchtern heruntergespielt werden, es muss ja dennoch einen Bezug für die Jugendlichen hergeben. Ich sage nicht, dass es leicht ist, eine Eigenproduktion zu machen, es ist eine andere Form der Theaterarbeit, wenn man persönliche Information herauskitzelt und das dann in eine dramaturgische Form bringt, das ist mega anspruchsvoll. Aber Faust oder Hamlet zu inszenieren mit 15 Jugendlichen, dass sie dazu dennoch einen Bezug haben zu ihrem Leben und zum Stück, das ist schwer.“ Und hier stellt André einen ganz klaren Appell an seine Kollegen und Kolleginnen im Schultheater: „Ich glaube einfach, dass man mit Schülern jedes Stück machen kann. Man kann mit ihnen auch jedes Thema behandeln. Man kann mit Fünftklässlern die Relativitätstheorie machen. Ich glaube, man kann jedes Thema so herunterbrechen, dass Schüler dazu einen Bezug finden. Man muss sich nur trauen. Das ist schwer und eine methodisch-didaktische- sowie theaterpädagogische Herausforderung. Das aber ist eben die Kunst. Auch für den normalen Lehrerberuf ist das bereits wichtig. Das sagt einem aber leider kaum einer. Als Lehrer muss man immer kreativ bleiben.“

Der Lehrerberuf und das versteifte System
Ja, auch der Lehrerberuf kann vom Schultheater sehr nachhaltig geprägt werden und anders herum. Kaum ein Beruf scheint so sehr in der täglichen medialen Betrachtung zu sein, wie der des Lehrers. Immer wieder hören wir von neuen Studien und Untersuchungen, dass unsere Schulen marode sind, die Lehrer überlastet und das Schulsystem veraltet. Was in diese dreiteilige Aufzählung passt, fasst ganze Bibliotheken an Fachbüchern und wenn hintereinander abgespielt, monate-, wenn nicht jahrelange Talkshows im öffentlich-rechtlichen Fernsehen.
André allerdings mag seinen Beruf: „Ich habe gefühlt Millionen Interessen, aber die finden in diesem Beruf alle einen Platz. Dinge, die ich in meinem Leben lese, erfahre, gucke, höre, um dann zu denken: Das wäre doch was Cooles, um das mit meiner Oberstufe zu machen oder: die Doku muss mich mal mit den Neunern gucken. Ich weiß noch nicht wie oder wo, aber das wäre mir wichtig.“ André weiß, dass man nicht Lehrer ist von acht bis 16 Uhr und danach Privatmensch. Er scheint die Welt aufzusaugen wie ein Schwamm um dadurch Dinge zu finden, die er in die Arbeit mit seinen Schülern einfließen lassen kann, ob dies nun der Sport- oder Englischunterricht ist oder aber die Theaterarbeit. Dennoch vermutet er auch zu wissen, warum so viele Menschen am Lehrerberuf scheitern: „Ich kann total nachvollziehen, warum man an diesem Job kaputtgehen kann. Der kann einen auffressen, wenn man das zulässt. Weil es einfach sehr viel ist an Eindrücken, die auf einen einprasseln, an Verantwortung, an Dingen, die man beachten muss. Wenn man sich nicht wohl fühlt vor einer Klasse und mit Menschen, dann muss das die Hölle sein.“ Auch André hat natürlich einmal Tage, an denen er gerne im Bett bleiben möchte, das ist nur menschlich. Doch dies ändert sich, wenn er in der Schule ankommt. Ob dies ein Patentrezept für alle ist, das weiß er nicht, aber für sich hat er da eine ganz einfache Methode gefunden, sich für jeden Tag zu motivieren: „Ich habe mir immer gesagt: „Im Grunde geben mir die Schüler die Energie. Wenn morgens die Fünftklässler vor der Turnhalle auf mich warten und richtig Bock auf Basketball haben, dann motiviert mich das auch direkt“. Zugleich warnt er aber auch: „Sollte es irgendwann mal so sein, dass ich in die Schule komme und ich merke, dass die Schüler mir die Kraft nehmen, ich glaube, dann muss man aufhören. Ich glaube auch, ich komme mit den Schülern sehr gut zurecht und denke, ich habe zu ihnen auch ein gutes Verhältnis, aber dennoch ist es anstrengend. Wenn jemand immer wieder einen Kampf ausfechten muss mit sich selber und mit den Schülern, das hält man auf die Dauer nicht durch, dann muss man sich wirklich fragen, ob das der richtige Beruf ist.“
Zwar fühlt sich André in seinem Beruf und auch in diesem System ein, doch weiß er genau so gut wie die Bücher veröffentlichenden und in Talkshows sprechenden Bildungsexperten, Neurobiologen, Philosophen und Historiker, dass unser Bildungssystem obsolet ist und dringend überholt werden muss. Auch ihn führte das bereits im Studium und im Referendariat in Sinnkrisen, in denen er vieles hinterfragen wollte: „Man denkt: Was machen wir hier eigentlich mit den Schülern? Man muss sich das nur vor Augen führen: Ich habe jetzt ein kleines Kind. Wenn das einmal mit der Schule fertig ist, sagen wir mal, in 18 Jahren, dann wird es die meisten Jobs, die wir heute kennen, gar nicht mehr geben und dafür neue, ganz andere Berufe. Wer hätte denn damals, als ich in die Grundschule gekommen bin, damit gerechnet, dass du einmal gut Geld damit verdienen kannst, bei Facebook für Unternehmen Marketingstrategien zu entwickeln oder ein Shampoo bei Youtube in die Kamera zu halten und Influencer zu sein? Die Frage für uns ist doch: Worauf bereiten wir die Kinder vor? Was macht das für einen Sinn, über Globalisierung im Englischunterricht zu reden und dann im Erdkundeunterricht und dann noch mal im Geschichtsunterricht und dann noch mal im Sowiunterricht? Das ist ein Thema. Und das sollen die nun im Englischunterricht, nachdem die das drei Mal schon woanders gehört haben, jetzt halt nur noch mal in englischer Sprache machen und dann soll das was ganz Neues sein?“

André will hier nicht falsch verstanden werden. Dies ist sein Job und den macht er auch gerne. Er will ja, dass seine Schüler gute Noten schreiben und weiß, dass die Prüfungen von ganz oben kommen und deshalb bereitet er sie natürlich so gut es geht darauf vor. Dennoch erlaubt sein kritischer Geist sich ebenso kritische Fragen: „Natürlich ist es wichtig, irgendwo rhetorische Strukturen zu erkennen, politische Reden zu verstehen. Aber muss ich das wirklich jahrelang immer wieder im Deutschunterricht, dann im Englischunterricht, dann im Französischunterricht durchnehmen?“ André geht sogar noch einen Schritt weiter und stellt eine provozierende These auf: „Wenn ich das so beobachte, da sitzen Zwölfer zum Beispiel in ihrer mündlichen Englischprüfung für das Abi, Thema: ‚Challenges and Benefits of Globalisation‘. Die bekommen dann einen Text von Obama, erzählen mir, dass der ein paar Metaphern und Alliterationen benutzt um seine Zuhörer auf das Thema aufmerksam zu machen, bekommen dann ihre zwei und sind fertig mit der Schulbildung. Ich weiß nicht, ob das zu vermessen ist, aber wenn ich ein paar fitte Neuntklässler habe, die ich dann ein paar Wochen vorbereite, die schaffen dann eine solche Abiturprüfung ebenfalls. Ich erarbeite mit denen eine Tabelle mit den Vor- und Nachteilen der Globalisierung, frage sie, wo sie davon im Alltag beeinflusst sind und zeige denen ein paar Stilmittel. Das sind Sachen, die bekommen Neuntklässler auch hin.“ André ist klar, dass dies eine hyperbolische (dieser Autor hat seinerzeit seine Stilmittel gelernt!) Darstellung ist. Aber im Grunde genommen trifft er damit einen Nerv.
Das Schulsystem gibt sich gerne modern und angepasst. Häufig hören wir auch von Schulkonzepten, dass Schüler alle individuell gefördert werden und in Differenzierungskursen auf die Stärken und Schwächen aller Schüler eingegangen werden kann. Man muss sich nicht lange mit dem durch die feudalistische Organisation vollends unübersichtlich gewordenen System auseinandersetzen, um zu erkennen, dass dies sehr romantische Ideen sind. Auch André sieht das nicht anders: „Das ist sehr paradox: Auf der einen Seite werden alle immer individuell gefördert aber am 17. November ist Klassenarbeit und da müssen alle das Gleiche können. Das ist völlig Gaga. Das ist Augenwischerei. Das ist für mich im Kern vielleicht das Hauptproblem am ganzen System. Du verlangst, dass die Kinder das gleiche können, tust aber so, als ob alle individuelle Wege einschlagen. Ich sage nicht, dass Differenzierung Quatsch ist. Individualisierung muss da sein. Aber das kann ich nicht erreichen, wenn ich das gleiche Ziel für alle habe.“
Als André sich im Jahr 2015 nach seinem Referendariat und einem Jahr als Vertretungskraft eine Auszeit nahm und mit seiner Frau eine Reise nach Neuseeland machte, wusste er nicht, dass diese Reise in Teilen zu einer Metapher für unser Bildungssystem wird: „In Neuseeland gingen wir wandern, meine Frau war ein bisschen krank, ich aber war topfit. Das war ein richtig cooler Wald, sogar mit Mammutbäumen. Ich hatte voll Bock auf eine große lange Wanderung. Dann standen wir vor der Tafel und überlegten, welchen Wanderweg wir jetzt nehmen wollten. Der, den ich nehmen wollte, war meiner Frau aber zu lang und zu hügelig. Irgendwann haben wir uns dann auf einen Weg geeinigt, der nicht allzu schwer und zu lang war. Am Ende keuchte sie ein bisschen, ein paar Berge waren dann doch drin und ich war nicht wirklich ausgelastet. Ich bin ständig vorgelaufen, habe ein paar Fotos gemacht, bin dann wieder zurückgelaufen zu meiner Frau. Aber warum war es wichtig, dass wir zusammen diesen Weg gingen? Wir waren mit einem Auto da, in dem wir auch geschlafen haben. Wir mussten uns also wieder treffen und daher den gleichen Weg gehen. Und da habe ich gedacht: Genauso ist unser Schulsystem! Du bist gezwungen, auf diesen Kompromiss, wir gehen jetzt diesen Mittelweg. Du hast die, die schlapper sind und hinterherhinken und die, die topfit sind und vorpreschen und dann unterwegs ein paar Fotos schießen sollen, damit sie beschäftigt sind: ‚Und jetzt? Was soll ich jetzt machen? Ich bin fertig!‘ – ‚Ja, mach noch ein paar Liegestütze.‘“
Und als wäre Neuseeland ein Codewort für Probleme, auf die sogleich Lösungen folgen, kann André von einem weiteren Erlebnis aus dieser Zeit berichten, das deutlich macht, wie Schule sein sollte: „Ein paar Tage später waren wir in Wellington im National Museum, das beste Museum, das ich je in meinem Leben gesehen habe. Da konnte man sehr viel interaktiv erleben und ausprobieren. Ich interessierte mich für andere Dinge als meine Frau. Wir haben unsere Wege getrennt, sie schaute sich das an, was sie interessierte und ich mir das, was mich interessierte. Zwischendurch haben wir uns mal wieder getroffen und uns ausgetauscht über das Gesehene. Und am Ende sind wir nach Hause gegangen und waren beide total happy. Ich habe manche Dinge weniger intensiv gesehen als sie und anders herum, aber das war cool. Genauso müsste Schule sein! Diesen Museumsbesuch kann man aber auch schnell kaputt machen, indem man sagt: Geht da rein, schaut euch alles an, macht das, was euch interessiert, aber am Ende schreiben wir einen Test über den Wal. Und genauso funktioniert das System. Das ist zugleich das Problem und die Lösung. Die Lösung in dem Museum war, dass es am Ende keinen Test gab. Jeder hat mitgenommen, was ihn interessierte. Ich weiß jetzt mehr über Wale und sie weiß mehr über die Geschichte von Neuseeland und das ist okay.“
Sicherlich ist sich André der Tatsache bewusst, dass dieses schöne Gleichnis schnell erzählt, das eingerostete Bildungssystem zu verändern dabei eine schwierigere Aufgabe ist. Alleine schon die Frage, wo man denn da ansetzt, ist sehr schwierig zu beantworten: Schafft man Klassenarbeiten ab? Irgendwie müssen Schüler ja bewertet werden, wenn nicht für Arbeitgeber, dann aber zumindest für eine Selbstreflexion. Ist das Gymnasium noch aktuell? Muss es wirklich neue Schulen geben? Was bringt die Gesamtschule und überhaupt: Was ist mit reformpädagogischen Ansätzen. Wie wäre es mit Tabula Rasa? Etwas rabiat, aber vielleicht die Lösung. Auch André weiß, dass das so nicht passieren wird. Er will gar nicht den Begriff „sich abfinden“ nutzen, um deutlich zu machen, dass er seinen Platz in diesem System gefunden hat, auch, wenn er es nicht für ideal hält. Für ihn sind es die kleinen Gesten und Tätigkeiten von ihm selbst und seinen Kollegen, die das System im Kern nicht verändern, den Schülerinnen und Schülern aber dennoch etwas mitgeben, was sie vielleicht etwas mehr auf das Leben vorbereitet als eine Kurvendiskussion oder eine Redeanalyse. André hat hierfür einen gesunden Weg gefunden: „Ich glaube, dass es nicht geht, ein System von außen zu verändern. Aber von innen heraus, ein kleines bisschen um sich herum zu verändern, das ist möglich. Das hat mir auch mein damaliger Fachleiter, Michael Brischke, mitgegeben: Am Anfang des Referendariats hatte ich die gleichen Gedanken und habe mich gefragt: Wie soll das funktionieren mit dem Differenzieren? Er hat dann versucht, mich da ein bisschen auf den Teppich zu holen und mir gesagt: ‚Du kannst nicht die Welt verändern, aber im Grunde kannst du etwas bewirken, wenn du um dich herum deine Welt veränderst.‘ Du bist dafür verantwortlich, dass du in deinem Unterricht Dinge biegst, die du biegen kannst und Lücken ausnutzt, die du nutzen kannst, vielleicht Projekte einfließen lassen kannst oder Themen, die vielleicht nicht direkt auf dem Lehrplan stehen, die du aber vielleicht dennoch legitimieren kannst.“

Natürlich hat die ausführliche Darstellung des problematischen Schulsystems und der eventuellen Lösung einiger der daraus resultierenden Probleme auch ihren Sinn für das Porträt eines Theatermachers. Der findige Leser wird das sicherlich bereits für sich entschlüsselt haben, denn das Schülertheater liefert in diesen erstarrten Gebilden einen ersten Schritt zur Lockerung: „Ich kann auch immer nur wiederholen, was Michael Stieleke, der ehemalige Leiter der Schultheatergruppe am Goethe, einmal in einem Interview gesagt hat: ‚Beim Theaterspielen lernst du alles, was du für das Leben brauchst!‘. All diese Fähigkeiten, Kreativität, Problemlösung, Kommunikation, Hartnäckigkeit, Experimentierfreude, man muss Konflikte aushalten und sie lösen, es passiert so viel, um am Ende ein Produkt zu erhalten, auf das man stolz ist, das passiert doch in der Arbeitswelt nicht anders. Das lernst du nicht, wenn du hundert Reden von Obama analysierst und guckst, wo der Metaphern benutzt.“
Manchmal hat André Tage, an denen er sogar der Überzeugung ist, dass Theaterunterricht das einzig Sinnvolle an der Schule ist. Das begründet der frisch gebackene Vater wieder mit Blick auf seinen Sohn: „Wenn mein Sohn in 18 Jahren aus der Schule kommt, wissen wir nicht, welche Jobs es da geben wird, aber ich weiß, dass, wenn er kreativ ist, wenn er ein ausgeprägtes Sozialbewusstsein hat, dann wird er jeden Job machen können. Und wenn er nicht weiß, wie es geht, dann erarbeitet er sich das. Aber wenn er immer nur gesagt bekommt, was er machen soll, damit fertig wird und dann darauf wartet, eine neue Anweisung zu bekommen, so, wie es im Schulunterricht oft der Fall ist, dann wird er zum Roboter. Wir brauchen aber keine Roboter. Dafür haben wir Roboter. Deswegen ist Theater oder generell ein kreativer, künstlerischer Prozess wichtig. Wir versuchen, unsere Kinder möglichst früh zu fördern, im Kindergarten sprechen sie am besten schon Spanisch und Englisch als Fremdsprachen, damit dann später in der Grundschule mehr Zeit für Klavier- und Violinenunterricht ist. Ich glaube aber, Kinder brauchen das alles erstmal nicht. Sie brauchen anfangs nicht viel: Rückbesinnung auf das Wesentliche. Kinder brauchen dich, sie brauchen Zeit, sie brauchen Zuneigung und Liebe. Sie müssen viel sehen, viel anfassen, viel spielen. Dann kommt das Interesse an Dingen wie Sprachen oder Instrumenten von ganz alleine.“
Dieser Druck, dem sich Eltern da ausgesetzt fühlen, sieht André in der Gesellschaft, denn die wirkt so, als müsse man seine Kinder zu Einzelkämpfern erziehen: „Es gibt unzählige gesellschaftliche Zwänge, denen wir uns automatisch unterzuordnen scheinen. Ich bin jetzt verheiratet und habe ein Kind. Muss ich jetzt direkt als nächsten Schritt ein Haus kaufen? Reicht da nicht die nette Wohnung, die zwar kleiner ist als ein Haus, aber weniger kostet, weshalb ich mir dann auch mal öfter eine Auszeit gönnen kann?“
Neue Wege gehen – So arbeitet André als Spielleiter
Um deutlich zu machen, was Theater an Schulen den Kindern und Jugendlichen bringt, stellt André mir anhand seiner letzten Produktion seine Arbeitsweise vor. Die Eigenproduktion des English Theatre Workshop am Goethe Gymnasium Why is the Sky Blue? war Andrés erste, die er mit deutschen Schülern in englischer Sprache inszenierte. Grundlage für das Stück war J.M. Berries Peter Pan in Kensigton Gardens und die Frage nach der Wichtigkeit und der Relevanz der Kindheit und wie und warum man sich diese erhalten sollte.

Doch bevor André überhaupt anfängt, sich mit der textlichen Materie zu beschäftigen, beginnt er, das haben wir bereits gelernt, mit allen bei null. Wichtig ist für André, dass er seine Schüler zuerst herausfinden lässt, wer sie selber sind: „Beim Theater müssen wir häufig Dinge herunterbrechen und uns die Frage stellen, wann jemand glaubhaft ist. Das ist das, was mich antreibt bei der Theaterarbeit. Die Suche nach Wahrheit, Glaubhaftigkeit und Authentizität. Wenn du dein ganzes Leben lang mit einer Maske herumläufst, wie willst du dann auf der Bühne echt sein? Du legst ja quasi dann noch eine Maske auf deine Maske. Das funktioniert irgendwann nicht mehr.“ Anschließend fragt sich André gemeinsam mit seinen Schülern, was Theater überhaupt ist. Hierbei will er ihnen die Erkenntnis vermitteln, über die Peter Brooke ziemlich viele Vorlesungen hielt, aus denen dann ein Meilenstein von einem Buch wurde: „Wir müssen uns rückbesinnen. Es geht nicht um eine Show oder darum, als Spielleiter irgendwo im Rampenlicht zu stehen. Es geht um das Theater und um die Schüler. Natürlich bedarf es eines Zuschauers. Einer geht durch den Raum und der andere sieht zu. Das muss das Theater schon bieten. Ich male kein Bild und zeige es keinem, ich schreibe kein Buch und lasse es niemanden lesen.“
Dann muss sich die Gruppe natürlich zuerst einmal finden, das ist nicht unbedingt einzigartig für das Theater, jede Gruppe, jede Ansammlung unterschiedlicher Menschen und Charaktere muss zuerst harmonieren, bevor sie wirklich intensiv an etwas arbeiten kann: „Wir fangen immer ganz simpel an mit Körperarbeit und gruppendynamischen Prozessen. Das braucht Zeit, da machst du nicht am Anfang eine Wuselübung, in der alle sich einmal anfassen und dann sind sie eine Gruppe. Das braucht ein paar Monate, bis die Schüler zu einem Team werden, das ist unheimlich wichtig, um von Anfang an nicht diesen Konkurrenzkampf entstehen zu lassen, dieses ‚Mein Text, dein Text‘.
Ganz im Stile seiner Wurzeln arbeitet André auch mit seinen Schülern sehr physisch und expressiv: „Ich fange gerne komplett ohne Sprache an, weil ich glaube, dass Theater im Kern nicht unbedingt Sprache benötigt. Und wenn was gesprochen wird, muss das auch seinen Sinn und seinen Grund haben, sonst muss ich das nicht sagen, da kann ich das auch zeigen. In der Körperarbeit muss man den Körper wie ein Musikinstrument stimmen, damit du ihn auch als Instrument benutzen kannst. Du musst hierbei verstehen, wie er funktioniert, wie er auf andere wirkt. Und das durch ganz einfache Bewegungsaufgaben: gehen, stehen, sitzen, aufstehen. Danach fängt man an, mit Sprache zu experimentieren. Aber auch Sprache nutzt man als expressives Medium über den Inhalt hinaus. Also sind die Worte quasi gar nicht so wichtig. Ich kann da mit einem Wort anfangen, aber ich muss es auch so meinen. Und wenn es nur ‚Yes‘ und ‚No‘ ist oder nur ‚Hey‘.“

Erst viel später, wenn es dann zur wirklichen Arbeit mit dem Text kommt, wird es auch für André spannend, denn er selber hat noch nie ein Stück auf einer literarischen Grundlage erarbeitet, wusste aber, welchen Ansatz er verfolgen wollte: „Ich habe der Gruppe auch ganz offen gesagt, dass ich noch nie mit einer Stückvorlage gearbeitet habe und sie gefragt, ob wir das einfach mal zusammen ausprobieren wollen und sehen, was dabei rauskommt.“ Alleine für diese Offenheit verdient André eine Trophäe. Viele Spielleiter meinen, keine Schwächen oder Unwissenheit vor ihrer Gruppe zugeben zu dürfen, doch André lässt dies Teil seines Konzepts werden: „Ich wusste nicht, ob es funktioniert. Das weiß ich am Anfang nie: Funktionieren meine Ideen? Kommen die bei den Schülern an? Wie sind die drauf? Können die überhaupt Englisch sprechen? Haben die überhaupt Bock auf das Thema? Also wenn die jetzt gesagt hätten: ‚Das ist alles scheiße, wir wollen ein Stück über den Zweiten Weltkrieg machen!‘, dann hätte ich das wahrscheinlich auch gemacht. Aber ich glaube, dass man so an die Themenauswahl herangeht, dass die Schüler damit schon was anfangen können. Und es hätte mich sehr gewundert, wenn sie das alles für Murks gehalten hätten.“
André hatte Glück und die Schüler fanden seinen Vorschlag gut. Doch war es nie der Plan, die Vorlage einfach nüchtern in ein Bühnenskript zu packen und sie dann herunterzuspielen. Großen Wert legt André auf die Geschichten, die von seinen Spielern kommen und riskiert hierbei auch, dass die originalen Texte bei der Bearbeitung in den Hintergrund rücken, denn die kann man ja notfalls in der Vorlage immer wieder nachlesen. Was neu ist und frisch, das ist der Input der SchülerInnen: „Und dann aber nicht chronologisch durch das Stück, sondern eher von innen nach außen. Also haben wir eher thematisch gearbeitet, uns mit dem Thema Kindheit beschäftigt und dem, was man damit verbindet, beispielsweise das Spielen. Besonders musste ich mich fragen, was die Schüler damit verbinden. Ich habe mich bereits zuvor zwei Jahre damit beschäftigt, viel über das Thema gelesen. Die Spieler haben dann auch viele eigene Texte geschrieben, gefühlt die Hälfte des Stücktextes ist von den Schülern.“
Sind die Texte dann erst einmal geschrieben, geht es an den dramaturgischen Prozess, das Zusammenführen dieser Texte zu Szenen. Aber auch hierbei schließt sich André nicht in ein dunkles Kämmerlein ein, sucht auch hier die Verbindung zu seinen Spielern: „Die Dramaturgie habe ich komplett mit den Schülern zusammen gemacht. Wir haben immer wieder diskutiert. Und natürlich haben die Schüler hin und wieder Zweifel angebracht, ob das in die richtige Richtung geht. Das ging mir ja nicht anders. Vielleicht sieht man aber als Spielleiter im Gesamtzusammenhang Dinge, die die Schüler nicht sehen. Dann muss man den Spielern einfach vermitteln, dass sie sich keine Sorgen machen müssen und ein bisschen in den Spielleiter vertrauen dürfen.“
Dieses Vertrauen ist unheimlich wichtig. Die Schüler müssen verstehen, dass sie in ihrem Spielleiter einen erfahrenen Theatermacher haben, der ein Gefühl dafür hat, dass das, was sie auf der Bühne tun, gut ist: „Das ist ein Vertrauen, das ich auch von Richard immer erfuhr: Ich wusste, der lässt uns nicht mit etwas auf die Bühne, bei dem wir schlecht dastehen. Und das habe ich den Schülern auch gesagt. Ich würde einen Schüler nie auf die Bühne schicken, wenn ich weiß, der macht sich dabei zum Affen. Das ist unsere Verantwortung, da müssen wir die Schüler schützen.“
Bis zur letzten Minute ist André immer offen für neue Ideen. Das ist ein künstlerischer Ansatz, für den man sich bewusst entscheidet. Das Düsseldorfer Puppenspielerduo half past selber schuld beispielsweise verriet uns im Interview, dass sie im Laufe ihrer Produktion irgendwann ein „Ideeverbot“ befolgen, was bei ihnen sicherlich aber auch damit zu tun hat, dass für sie noch zusätzliche Zeit für den Puppenbau mit einberechnet werden muss. André kennt dieses Ideeverbot nicht, er arbeitet eher nach der Einstellung „Mal gucken, was passiert“. So sind einige Einbauten in Why is the Sky Blue? eher dem Zufall geschuldet: „Die Proben zu unserer letzten Produktion begannen immer um 16 Uhr, ich hatte aber bereits nach der fünften Stunde frei. Nachdem ich dann Essen gegangen war, hatte ich immer noch sehr viel Zeit, also habe ich mich in der Aula auf die Bühne gelegt und mich dort ausgeruht. Eine Schülerin aus der AG kam auch öfters früher in die Aula, die ebenfalls frei hatte und Klavier üben wollte. Dies führte dazu, dass sie, die anfangs nicht vor Leuten spielen wollte, ihr Klavierspiel ins Stück mit integrieren konnte. Das sind Dinge, die weiß man zu Beginn der Produktion nicht, mit denen kann man nicht Planen. Da war es vielleicht auch ein bisschen Glück, dass die Musik im Stück letztendlich komplett live gespielt wird.“
Zwar birgt dieses Vorgehen eine gewisse Unsicherheit und manch ein Spielleiter kann da seinen inneren Kontrollfreak nicht unterdrücken, doch Andrés Stück hat gezeigt, dass dies durchaus funktionieren kann: „Diese Unsicherheit am Anfang, nicht zu wissen, in welche Richtung sich das Stück entwickelt, muss man einfach aushalten. Da passieren am Ende die besten Sachen.“

Das klingt ja schon fast so, als sei das zweite Wort im Begriff Spielleiter bei André vollkommen untergegangen. Doch ist dem nicht so. André ist sich seiner Funktion als Spielleiter durchaus bewusst. Abgesehen von der nicht enden wollenden Diskussion, ob es im Schultheater jetzt Spielleitung oder Regie heißt, fällt die letzte Entscheidung immer der Spielleiter, so demokratisch das System auch ist. Diese Entscheidung muss der Spielleiter am Ende in Gänze verantworten und da spricht André eine ganz wichtige Beobachtung an, die er machte, als er das Programmheft für Why is the Sky Blue? erstellte: „Bei den Credits des Stückes stand ich alleine als Spielleiter. Cameron, unser Fremdsprachenassistent, hat mir bei der Arbeit am Stück sehr viel geholfen und da habe ich auch überlegt, ob ich ihn bei der Spielleitung dazu schreibe oder nicht. Am Ende war er Assistant Director. Das habe ich nicht gemacht, um mich zu profilieren und die Lorbeeren einzuheimsen. Es geht darum, die Verantwortung zu tragen. Klar: Wenn es gut läuft, streicht man die Lorbeeren ein. Aber was ist, wenn es schief geht und wenn Fehler passieren und wenn ich eine Missplanung mache und Scheiße baue? Ich leite die AG, ich organisiere sie, ich spreche die Termine ab, ich muss die Aula organisieren, das mit dem Hausmeister abklären, ich muss Geld ausgeben und so weiter. Wenn ich da Mist baue, muss ich auch meinen Kopf dafür hinhalten. Dann bin ich auch dafür verantwortlich. Und ich kann dem Fremdsprachenassistenten, der mich unterstützt, dafür doch nicht die Verantwortung übertragen.“ Flyer so mancher Schultheaterproduktionen zeigen bis zu acht Namen unter der Position des Spielleiters auf. Da kann man sich dann wirklich einmal kritisch fragen, ob die alle im Ernstfall wirklich die Verantwortung tragen oder einfach nur gerne mit Führungspositionen liebäugeln. André nennt das ganz passend „Pseudo-Demokratie“. Und so ist es die einzige richtige Entscheidung, die Spielleitung so klein wie möglich zu halten.
Generell hatte ich in diesem Interview das Gefühl, André trifft viele richtige Entscheidungen und hat die korrekten Ansichten. Für ihn würde ich mir wünschen, dass er künftig noch viele tolle Theaterprojekte mit Jugendlichen verwirklichen kann und damit noch viele Spielleiter, solche, die meinen, sie seien es und ebenjene, die es noch werden wollen in ihrer Arbeit inspiriert. Hierfür hat er auch schon Pläne, er will sich an sein Lieblingsstück trauen: „Ich will Hamlet inszenieren. Und mich mit den Schülern beschäftigen mit den gesellschaftlichen Zwänge um uns herum: ‚Och, zieh doch mal dein Trauergewand aus, du trägst ja immer noch dein schwarzes Hemd.‘ Hamlet ist, wie alle Stoffe von Shakespeare noch immer topaktuell und ich glaube, dieses Stück bringt auch viel für die Jugendlichen mit.“
Da bin auch ich mir sicher. Ich freue mich jetzt schon auf diese Inszenierung!
Bei André bedanke ich mich auf jeden Fall für dieses lange, intensive und erkenntnisbringende Interview und wünsche ihm für seine Zukunft alles Gute und drücke ihm die Daumen, dass er es vielleicht wirklich schafft, dieses System ein bisschen von innen zu erneuern, am besten natürlich, mit seinen spannenden Theaterarbeiten.
Wenn ihr auch einen coolen Theatermenschen kennt, der hier porträtiert werden sollte, zögert nicht, uns anzuschreiben: kontakt@theaterwg.de
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