Beitragsbild: Jochen Klenk
Text: Marius Panitz (marius.panitz@theaterwg.de)
Ja, vor Kurzem waren wir in Tecklenburg und gleich darauf in Ötigheim und könnten jetzt einen Freilichtbühnenvergleich ziehen. Welche ist die größte Bühne? Welche die schönste? Auf welcher wird mehr geballert? Bei der letzten Frage sprechen wir uns für Ötigheim aus, beim Rest bleiben wir neutral und überlassen dem Zuschauer das eigene Urteil, denn jede Bühne bringt ihren eigenen Zauber und von jenem aus Ötigheim wollen wir nun berichten.
Am vergangenen Wochenende besuchten wir die in Baden-Württemberg an der Grenze zu Frankreich liegende, knapp 5.000 Einwohner zählende Gemeinde Ötigheim, die mit ihrer über 100 Jahre alten Freilichtbühne eine ganz klare theatrale Färbung trägt, die sogar so weit führt, dass Ötigheim auch gern „Telldorf“ genannt wird. Benannt nach Wilhelm Tell, 1910 eine der ersten großen Aufführungen auf der riesigen Freilichtbühne, die mittig ein Schloss mit großer Vortreppe und zwei oktogonalen Türmen, rechts die Kulisse zweier Fachwerkhäuschen und links einen Wald mit Felslandschaft aufweist.

Zuvorderst muss klargestellt werden, dass das Volksschauspiel Ötigheim seinem Namen alle Ehre macht. Als im Jahre 1905 der Pfarrer Josef Saier seine Pfarrstelle in Ötigheim antrat, schaffte er dort eine Theaterbühne, die zuerst den Dorfbewohnern einen Mittelpunkt schenken sollte. Unter dem Slogan „Volk spielt fürs Volk“ schaffte Saier eine dörfliche Zusammenkunft unter dem Stern des Theaters, die bis heute anhält und die ganze Gemeinde auf sich vereinigt. So ist es bezeichnend, dass ein Großteil der Stücke, die es in Ötigheim zu sehen gibt, mit Laienschauspielern aus dem Ort besetzt und nur marginal durch professionelle Schauspieler komplettiert werden. Pro Saison werden drei Stücke bespielt, die teils mit Massenszenen, Pferden und Pyrotechnik ganz großen Bahnhof machen, wie dies dieses Jahr bei Münchhausen der Fall ist, die teils aber auch versuchen, weniger mehr sein zu lassen.
Mit Die Räuber haben wir definitiv ein Stück aus der zweiten Kategorie gesehen. Schiller selbst gibt in der Dramatis Personae seines Stückes sechzehn Personen an, ergänzt durch „Räuberbande“ und „Nebenpersonen“. Eine Enseblegröße also, die sich sicherlich gut auf der Bühne eines Schauspielhauses macht. Doch läuft sie nicht vielleicht Gefahr, sich auf der riesigen Bühnenfläche zu verlieren?

Der Klassiker, oder eher der Stürmer und Dränger Die Räuber von 1781 ist eine Tragödie, die vielen, besonders Deutschabiturienten*innen, sicherlich noch aus der Schule bekannt und zumeist, ob der schwierigen Sprache, nicht mit positiven Erinnerungen verknüpft ist. Ob das Telldorf uns mit der schweren Kost auf seiner opulenten Freilichtbühne dennoch verzaubern konnte, das klären wir hier.
Der alte Maximilian Graf von Moor ist blind, gebrechlich und hat vermutlich nicht mehr lange zu leben. Seine beiden Söhne Franz und Karl sind dagegen vital und blühen beide auf in ihren Plänen für die Zukunft. Der hässliche Franz, der neben Karls Verlobten Amalia am Hofe des Vaters lebt, giert als Zweitgeborener nach all dem, was seinem Bruder Karl durch Primogenitur zusteht und will ihn, sowie seinen Vater, aus dem Weg räumen. Hierfür intrigiert er, was das Zeug hält. Er fälscht einen Brief von Karl, den er seinem Vater vorliest. Hier lässt er es so aussehen, als habe Karl Schulden und zudem einen Mord begangen, weswegen er nun vor der Justiz flieht. Franz überredet den sichtlich schockierten Vater, Karl wegen dieser Taten zu enterben und zu verbannen, was Franz Karl in einem Brief mitteilt. Erschüttert von dieser Nachricht gründet Karl mit weiteren Studenten eine Räuberbande und lebt von nun an in den Böhmischen Wäldern an der Donau. Von hier aus starten sie nun Raubzüge, von denen Karl andere Vorstellungen hat als sein Mitstreiter Moritz Spiegelberg, der eigentlich der Anführer der Räuberbande werden wollte. Während Karl eigentlich Robin Hood’sche Ziele verfolgen, von den Reichen rauben und den Armen spenden will, töten, brandschatzen und morden Spiegelberg und weitere Gefährten sich skrupellos durch die Gegend. Als die Bande ihr Mitglied Roller vor der Hinrichtung rettet, nimmt Karl sogar in Kauf, dass sie eine ganze Stadt niederbrennen, ist aber dennoch erzürnt über die Handhabe seiner Kameraden, sogar Frauen, Kranke und Kinder ins Feuer geworfen zu haben. Als ein Heer aus Strafverfolgern die Räuberbande umstellt und ein Priester den Räubern Absolution und die Vergebung aller Schandtaten anbietet, wenn sie ihren Hauptmann ausliefern, winken alle ab, stellen sich geschlossen hinter Karl und ziehen in den Kampf gegen das Heer, den sie auch, schwer verwundet, gewinnen. Durch einen Neuankömmling, Kosinksy, dessen Leben viele Parallelen zu seinem hat, unter anderem eine Geliebte namens Amalia, fühlt sich Karl an sein altes Leben erinnert und es zieht ihn zurück nach Hause. Hier hat der intrigante Franz mittlerweile seinem Vater das Herz gebrochen. Er hat Hermann, einen Bastard von einem Adeligen, gegen Karl aufgebracht und ihn davon überzeugt, vorm Vater die Rolle eines Kameraden zu spielen, der an der Seite Karls gekämpft und ihn hat sterben sehen. Die Nachricht um Karls Tod erfüllt den Vater mit Schmerz und führt ihn in den vermeintlichen Tod. Nachdem Franz erfolglos versucht hat, Amalia für sich zu gewinnen, betritt Karl verkleidet das Schloss, sodass Amalia ihn nicht erkennt. Er erfährt von all den Intrigen seines Bruders und zudem, dass Amalia ihn noch immer liebt. Durch diese Liebe beflügelt, aber zugleich hasserfüllt wegen seines Bruders befiehlt er seinen Räubern, das Schloss zu stürmen, ihm Franz lebend zu bringen und das Schloss niederzubrennen. Franz allerdings entzieht sich der Gefangenschaft durch Suizid. Zudem findet Karl seinen Vater, der nicht tot war sondern nur gefangen gehalten, der allerdings nun, sowie er erfährt, dass Karl ein Räuberhauptmann ist, wirklich stirbt. Als Karl auf Amalia trifft und sie ihn nun erkennt, wird klar, dass sie nie wieder zusammen finden können. Karl ist durch seinen Schwur an seine Räuberbande gebunden und kann deshalb nicht zu ihr zurückkehren. Die Liebe zu Karl ist für Amalia allerdings alternativlos, sie fleht Karl daher an, sie zu töten, eine Bitte, der Karl schweren Herzens nachkommt. Um seine Schuld zu begleichen, beschließt Karl am Ende, sich der Justiz selbst zu stellen. Er liefert sich selber einem Tagelöhner aus, der durch das Kopfgeld seine Familie ernähren kann.

Hui. So viel zu Schillers Vorlage. Bei dieser Inhaltszusammenfassung, die selber noch großzügig gekürzt ist, ist es sicherlich kein Wunder, dass die Ötigheimer Vorstellung drei Stunden und 15 Minuten dauert. Doch stellt sich nun die Frage, wie die Ötigheimer rund um Regisseur Peter Lüdi ihre Freilichtbühne stürmten (und drängten?).
Gleich zu Beginn gilt festzustellen, dass ein Großteil des Ensembles uns von den gespielten Rollen sehr überzeugte, sodass wir gar nicht wirklich von einer Trennung zwischen Laien- und Profispiel sprechen wollen. Natürlich hört man hier und dort das Schwäbische oder Oberrheinalemannische in der Sprachfärbung durchklingen, aber sind wir ehrlich: Who cares? Was uns wirklich verzaubert ist die Leidenschaft im Schauspiel, die wir an manch einem Profihaus teilweise sogar vermissen. Die Spieler*innen sind sich ihrer professionellen Umgebung mehr als bewusst. Die Bühne (ebenfalls Peter Lüdi), die Kostüme (Karel Spanhak), die Licht- und Soundtechnik bilden in ihrer Gesamtheit eine Spielfläche, die den Schauspielern*innen, egal ob Laie oder Profi, ein wahrhaftig riesiges Umfeld gibt, sich künstlerisch auszutoben und das führt auch in der Wahrnehmung der Zuschauer*innen zu Begeisterung. Das Ensemble hat wirklich ganz große Arbeit geleistet, den Schiller’schen Text zum Leben zu erwecken, sodass es für diese Besprechung den Rahmen sprengen würde, allesamt aufzuzählen, was uns aber von Hervorhebungen nicht abhalten soll.

Der das Laienschauspiel unterstützende Profischauspieler ist in dieser Produktion Martin Trippensee, studierter Schauspieler vom Mozarteum in Salzburg. Er übernahm die Rolle des Franz Moor und gab ihr einen besonders starken Pathos. Die Tatsache, dass die Inszenierung Schillers Regieanweisung, dass Franz hässlich sei, ignoriert, übernimmt Trippensee in seine Rolle und bietet uns einen innerlich hässlichen Franz an. In großer Geste und schwerer Getragenheit in der Stimme zeigt Trippensee von Anfang an einen Franz, bei dem deutlich wird, was er will, über wie viele Leichen er dabei zu gehen bereit ist und den der Zuschauer daher gar nicht in sein Herz schließen will.
In weiteren Rollen besonders aufgegangen sind aber vor allem David Kühn als Karl, der vielleicht anfangs etwas warm werden musste, letztendlich aber in seinem Gefühlschaos zwischen Wut, Hass aber auch der Verbundenheit zu seiner Heimat und besonders zu Amalia die Zuschauer überzeugte. Von Anfang an auch eine Wucht: Reinhard Danner als der skrupellose Moritz Spiegelberg, dessen richtig cooler Ledermantel nicht nur bei jedem Schritt wirklich bedrohlich im Ötigheimer Sommerwind weht. Danner kreiert auch einen Spiegelberg, dem man seinen Drang, selber Anführer zu sein und seine überspielte Verachtung gegenüber der Bande, die sich für Karl entscheidet, von der er aber zugleich abhängig ist, jederzeit ansieht. Besonders in seiner großen Stunde, als er erfolglos versucht, gegen Karl als Hauptmann zu meutern, hängen wir in jeder Sekunde an seinen Lippen.

Die Inszenierungen der Freilichtbühne Ötigheim sind besonders bekannt für ihren Einsatz von Feuer(werk). Hierfür fahren sie gerne schwere Geschütze auf, was sie bei Inszenierungen von Les Misérables oder Münchhausen mit echten und laut knallenden Kanonen sehr wörtlich nehmen. Dass es den Pyrotechnikern auch bei Die Räuber in den Fingern kitzelte, zu zeigen, wie laut sie es knallen lassen konnten, merkten wir besonders beim markerschütternden und ohrenbetäubenden Knall, der die Explosion eines Pulverturms beim Überfall auf die Stadt darstellte und besonders den Autor dieses Textes in ständige Alarmbereitschaft versetzte, dass gleich wieder etwas knallen oder explodieren könnte (wirklich… ich hasse Pyrotechnik auf oder neben der Bühne!). Doch geht man als Theaterrezensent natürlich gerne über diese Planke und stellt fest: Wem’s gefällt, der wird das Geknalle lieben!
Und dennoch: Trotz dieser und weiterer Knalle und Explosionen, eines wirklich wunderschön-feurigem Schlussbilds und der fackelnden Spielenergie der Darsteller will bei uns die Inszenierung leider nicht auf ganzer Ebene zünden. Dies liegt vermutlich an den eingangs beschriebenen Bedenken, dass die Bühne für dieses Stück schlichtweg zu groß ist. Diese haben sich nämlich irgendwie bestätigt. Besonders in der ersten Hälfte, in der die Bühne durch das Tageslicht noch in Gänze beleuchtet ist und der Blick des Zuschauers nicht wie später in der Dunkelheit des Abends durch das Bühnenlicht gelenkt werden kann, gehen die Schauspieler vor der mächtigen Kulisse einfach unter. Zwar versuchte man, dem Abhilfe zu schaffen, indem man an die vordere Rampe ein quer aufgestelltes erhöhtes Podest installierte, auf dem ein Großteil der Szenen gespielt wurde, doch wirkte dies nur bedingt, spätestens, wenn sich die Bewgung im Spiel in die Flanken der Bühnenflächen bewegte.

Die Dynamik ist ebenfalls etwas, was manch ein Zuschauer vielleicht im Stück vermisst. Es ist keine Frage, dass Friedrich Schiller mit viel Text um die Ecke kommt und der will natürlich auch rezitiert werden. Doch führt dies zu teils sehr langen Dialog- und Monologszenen, die vom Zuschauer einige Konzentration abverlangen, denn, das muss einfach festgestellt werden, so schön die Sprache Schillers oder Goethes auch ist, sie ist auch mehr als 200 Jahre alt und wird durch eine Vielzahl an sprachlichen Mitteln wie Metaphern, Satzbrüchen oder komplexerer Parallelismen verkompliziert. Viele Dramen des Sturm und Drang, wie auch Goethes Götz von Berlichingen, für Schillers Räuber übrigens eine große Inspiration, wurden als Lesestück geschrieben, sollten also ursprünglich gar nicht auf die Bühne geführt werden. So auch Die Räuber. Dass viele Theater das heute anders sehen, zeigen die Spielpläne der deutschen Schauspielhäuser. Auch die Inszenierung Lüdis setzt sehr auf textliche Werktreue, sodass manch ein Zuschauer, der viel Bewegung auf der Bühne erwartet, vielleicht enttäuscht werden könnte. Dennoch empfehlen wir, dass man für so manches Werk auch einfach einmal aus der Komfortzone des sich berieseln lassenden Theaterzuschauers ausbrechen, sich dem Text stellen und diese tolle Sprache auf sich wirken lassen sollte.

Wir wissen nicht, wie viel Werktreue am Ende wirklich nötig gewesen wäre. Vielleicht hätte man der großen Kulisse wegen die eine oder andere Szene kürzen, umdichten oder hinzufügen können. Wir spinnen ein wenig herum und hätten uns beispielsweise den Kampf zwischen der Räuberbande und dem Heer, das Schiller selber in der Dunkelheit der Mauerschau verschwinden lässt und nur andeutet, mit vielen Soldaten-Statisten, spektakulären Schießereien und Kampfchoreos auf der Bühne gewünscht. Oder das erste Erscheinen der Studenten, die später zu Räubern werden. Lüdi lässt sie hierfür mit Degen und Fechtjacken auftreten, die die Schauspieler aber nur mitschleppen um sie nach einem längeren Dialog wieder hinter die Bühne zu tragen. Wäre hier nicht noch etwas Zeit gewesen mit einem kleinen Fechtkampf unter Kommilitonen über den theatralen Tellerrand der originalen Vorlage hinwegzusehen? Immerhin beweist die Ötigheimer Inszenierung den Mut zu diesen Änderungen, entscheidet sie sich doch dafür, Karl am Ende ebenfalls Suizid begehen zu lassen und sich nicht dem Tagelöhner zu stellen, sodass dieser mit dem Kopfgeld die Familie ernähren kann. Warum sich Lüdi hier gegen diese ritterliche Geste entscheidet und seinen Karl dadurch weitaus egoistischer daherkommen lässt, ist uns ein Geheimnis, wir jedenfalls haben diesen Charakterzug sehr vermisst.

Vermutlich albern wir mit unseren unreflektierten Wünschen nur herum und verärgern damit jeden Hardcore-Germanisten sowie den Kassenprüfer des Volksschauspiels Ötigheim, denn eine Armee aus Statisten will ausgestattet und kostümiert werden. Vielleicht ist Die Räuber von Peter Lüdi in der 2019 in Ötigheim gespielten Version letztendlich genauso richtig. Schillers Vorlage wird sie zumindest fast durchgehend gerecht. Das Schauspiel ist solide, die Bühne sieht einfach toll aus und auch, wenn sie manchmal die Schauspieler*innen untergehen lässt, trägt die toll vorgetragene Sprache der Laiendarsteller, die wir teilweise schon im semiprofessionellen Bereich sehen, zu einem brillanten Theaterabend bei, den wir gerne weiterempfehlen wollen.
Der Theatersommer der Volksschauspiele Ötigheim zieht sich mit seinen Stücken Die Räuber, Münchhausen und Der Gestiefelte Kater (leider bereits abgespielt) noch bis in den September und wir empfehlen definitiv den Besuch der Freilichtbühne. Weitere Infos zu den Stücken und Tickets findet Ihr auf der Website der Volkschauspiele, die vermutlich auch uns nicht zum letzten Mal gesehen haben.