Titelfoto: Sandra Then
Text: Marius Panitz (marius.panitz@theaterwg.de)
Jetzt einmal Hand aufs Herz: Wenn ihr jetzt, genau jetzt in diesem Moment, in dem ihr diese Zeilen lest, also jetzt sofort, direkt und ohne zu zögern, euren Autoschlüssel und damit euer Eigentum am Auto abzugeben aufgefordert würdet, das alles im Namen einer gesünderen Umwelt und dadurch besseren Zukunft, wer von euch wäre dabei?
Eine Aufforderung, so beobachtet in der Inszenierung Volksfeind for Future von Regisseur Volker Lösch und Autor Lothar Kittstein, dargeboten am Düsseldorfer Schauspielhaus. Mit Henrik Ibsens Drama Ein Volkfeind aus dem Jahr 1883 hat das Stück allerdings nur ein Drittel seines Titels sowie dessen Konflikt um Moral versus Kommerz gemein. Lösch und Kittstein transportieren die Handlung um den Badearzt Dr. Stockmann, der publik machen will, dass das Wasser des Kurbads, das jährlich tausende von zahlenden Gästen in die Stadt lockt, vergiftet ist und daher von den Honorationen der Stadt, die hierdurch große finanzielle Einbußen befürchten, mundtot gemacht werden muss, in die Gegenwart und setzen sie in die „schönste Stadt am Rhein“ nach Düsseldorf (naja…), welche den Zuschlag für den Bau eines Tesla-Werks bekommt. Die grüne Oberbürgermeisterin (Minna Wündrich) freut sich über den Schritt, den ihre Stadt in die grüne Zukunft macht und der Geschäftsführer (Rainer Philippi) freut sich über volle Taschen ob der steigenden Auftragslage für E-Autos. Gegenwind kommt ausgerechnet von den Kindern der OB, von ihrer Tochter (Cennet Rüya Voß) und ihrem Sohn (Charlie Schrein), die sich etablieren als Sprachrohr ihrer Generation, informiert, belesen, kritisch und auf Krawall gebürstet und Fakten liefern über die Heuchelei, die vonstatten geht, denn sie klagen an: E-Autos sind keine Alternative, sie werden zu den immer noch produzierten Fahrzeugen mit Verbrennungsmotor hinzukommen, sind nur Zweit- oder Drittwagen und hiermit lediglich ein ziemlich teures gutes Gewissen vor einem Tag für Tag immer bedrohteren Klima. Argumente, die die Oberbürgermeisterin in ein Dilemma stürzen, zumal sie ihren Ehemann sowie den Vater der Kinder (Glenn Goltz) überzeugen und seinen linksradikalen Geist Vergangenheit wiedererwecken. Auch der Betriebsrat aus der Dieselindustrie (Jonas Friedrich Leonhardi) freut sich über die oppositionelle Haltung den E-Autos gegenüber, nicht, weil er die Umwelt retten will, nein, für ihn sind Verbrennungsmotoren, besonders der Diesel, das Alpha und Omega der Fortbewegung. Hierüber berichtet die vermeintlich der objektiven Sache verpflichtete Chefredakteurin der Rheinischen Rundschau (Claudia Hübbecker) in dem fadenscheinigen Versuch, allen Anwesenden eine Stimme zu geben.

Eine Geschichte mit viel (Achtung, Verbrennungsmotor-Witz) Zündstoff also, die weiterhin befeuert wird durch einen für Regisseur Lösch typischen Chor an Laiendarsteller*innen, die allesamt eine direkte Verbundenheit zum Thema haben. Bei Volksfeind for Future sind das 20 junge Umweltaktivist*innen (Esra Atanasova, Nora Beisel, Lena Berghaus, René Boddice, Sara Lin Chen, Kester Elfroth, Nathanael Evers, Emma Fuhrmeister, Janna Gangolf, Sina Göttmann, Gesa van gen Hassend, Jan-Moritz Hoffmann, Greta Kolb, Oskar Lüttmann, Emilio Maestro, John-Frederik Reeg, Linus Reimann, Rebecca Roche, Juliane Sattler, Hanna Lei Shen), die – coronabedingt – dieses Mal nicht auf der Bühne stehen sondern immer wieder über höchst ansehnliche Videoeinspielungen (Robi Voigt) eine große Plattform für ihre Inhalte geboten bekommen.
Doch haben die Schauspieler*innen gemeinsam mit den Umweltaktivisti*innen und der aufgezeigten Geschichte diese Plattform für ihre Botschaften gut und ausreichend genutzt?
Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass auf die Zuschauer*innen innerhalb des knapp zweistündigen Stückes ein Gewitter an Fakten und Informationen herniederrasselt, das so manche*n Theatergänger*in im Regen stehen lässt (hierzu später mehr.) Besonders die beiden Kinder der Oberbürgermeisterin stechen hier hervor. Ein Großteil der, teilweise mit Nachdruck im Choral gesprochenen, Textpassagen von Voß und Schrein sind wissenschaftlich fundierte Zahlen über den Klimawandel, die Autoindustrie sowie wirklich funktional wirkende Konzepte für eine autofreie Zukunft. Hiermit verkörpern die beiden den Archetypus der Fridays for Future-Bewegung rund um Greta Thunberg. Eine aufgeklärte Jugend, die die Zahlen kennt, die sich Gedanken gemacht hat über Alternativen, der aber die Hände gebunden sind und die anschreien gegen eine Wand aus ignoranten und korrupten Konzerchef*innen, Politiker*innen und Lobbyist*innen und vor allem einer Überzahl an alten weißen Männern, die einfach noch zu viel Entscheidungsgewalt über die Geschicke der Welt haben.
In einer Szene, die als Bürgerversammlung der Oberbürgermeisterin etabliert wird, kommt es zu einem Austausch der Figuren auf der Bühne mit dem Publikum. Auf die anfangs in diesem Text dargestellte Aufforderung, den Autoschlüssel abzugeben, reagiert ein ebensolcher alter, weißer Mann aus dem Publikum, in dem er hochnäsig und das Stück vollkommen nicht reflektierend „Träum weiter!“ in den Saal ruft. Insider-Informationen des Autors zufolge (ich habe den Herren nach der Vorstellung zufällig beim Toilettengang im Gespräch mit einem anderen alten, weißen Mann belauschen können), spielte er die Argumente der Inszenierung mit den Worten „Hach ja, nett… Früher hatten wir auch noch Träume“ im wahrsten Sinne des Wortes das Pissoir herunter.

Wirklich schade, denn solche Personen sind die wahre Zielgruppe der Inszenierung, die nicht müde wird, mit dem Finger auf uns Zuschauer*innen zu zeigen. Es wird sehr viel angeklagt und angeprangert, sehr oft hören wir die direkte Ansprache „ihr“ und müssen uns Vorwürfe gefallen lassen, was alles falsch läuft und werden von den Kindern der Oberbürgermeisterin sowie der immer wieder via Video eingeblendeten Umweltaktivist*innen ermahnt und gemaßregelt. Und in diesem Zusammenhang macht der alte, weiße „Träum weiter!“-Mann sich mit seiner Aussage ganz unbewusst zum Darsteller in diesem Stück, schon fast zur Antagonistenfigur, denn er verkörpert diese Art von Mensch, an dem all diese bewiesen Zahlen und Fakten abprallen, der sich der Sache immer noch nicht bewusst ist, vielleicht sogar davon ausgeht, dass er seinen Lebensabend bereits greifen kann und mit den Problemen der Zukunft nichts mehr am Hut hat und der nach der Vorstellung in seine Mercedes C-Klasse steigt und nach Hause fährt.
Schauspielerisch ist an Volksfeind for Future nichts zu meckern. Die Darsteller*innen überzeugen in ihrem Ibsen’schen Naturalismus und tragen allesamt zum Gelingen des Abends bei. In so mancher Szene allerdings besteht die Gefahr, dass sie sich von der Bühne des Schauspielhauses sowie ihrer Dekoration (Carola Reuther) die Show stehlen lassen. Das Drehelement der Bühne ist vollgestellt mit bunten Autos, die als Spielplattform, als Sitzgelegenheit oder als Rednerpult verwendet werden, in dynamischen Szenen wird über sie hin und her gehüpft, unter Einsatz der Hubfunktion der Bühne können die Autos tribünenartig in die Höhe bewegt werden und unterstützen in so manchen Szenen beispielsweise eindrucksvoll die Statuswippe. Auch im zweiten Teil des Stückes, einer Traumsequenz, die visuell aus einem von oben herab begrenzten Bühnenbild aus Autoreifen besteht, gelingen trotz der Reduktion eindrucksvolle Bilder.

Volksfeind for Future ist frech, ist provokant, ist laut. Für uns selbst hätte die Inszenierung noch frecher, noch provokanter und noch lauter sein dürfen. Künstler*innen haben – genauso wie Fridays for Future-Aktivist*innen – so lange das Recht, laut und rotzfrech mit dem Finger auf uns alle zu zeigen, bis sich in der Welt etwas bewegt. Was nämlich viele vergessen ist, dass es der hauptsächliche Antrieb der protestierenden Kinder und Jugendlichen ist, dass sie ein genauso schönes Leben führen wollen, wie diejenigen, die jetzt im Alter bocken und das alles nicht ernst nehmen. Die Kinder von heute wollen ihren Lebensabend ungern auf einem im Schnitt vier Grad heißeren Planeten voller Plastik, verschmutzter Luft, ausgestorbener Tierarten und durch einen steigenden Meeresspiegel überfluteten Küstenregionen verbringen. Auch wir nehmen uns aus der Kritik nicht heraus. Auch wir sind nach dem Stück ins Auto gestiegen und auch wir sind CO2-schleudernd nach Hause gefahren. Aber uns hat das Stück erreicht. Es hat uns nicht nur aufgeklärt über die E-Auto-Heuchelei, es hat uns mit seiner laut geschrienen und Gänsehaut verursachenden Anklage nachhaltig beeindruckt und uns den Zündschlüssel mit bedeutend schlechtem Gewissen umdrehen lassen. Dass manche*r Zuschauer*in den Abend nur für Belehrung und vielleicht etwas bunteren und mit Musik unterlegten Frontalunterricht gehalten hat, ist vermutlich eine nicht sonderlich neue Erkenntnis. Allerdings ist es für das Theater der richtige Weg, nicht einfach nur Fragen zu stellen und neugierig zu sein, sondern Fakten zu liefern und zu ermahnen. Wir jedenfalls hatten einen tollen, eindrucksvollen Theaterabend, an dem wir noch etwas gelernt haben und welchen wir euch allen – wenn noch nicht geschehen – ans Herz legen können.
Wer neugierig geworden ist, dem oder der empfehlen wir für weitere Infos, Bilder und Tickets einen Besuch auf der Website des Theaters oder auf einer der vielen gängigen Plattformen für Podcasts. Hier nämlich findet sich eine knapp 20-minütige Einführung zum Stück samt Interview mit Regisseur Volker Lösch, der weitere spannende Hintergrundbeiträge liefert.
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