Welche Person ist heterosexuell?

Foto: Patryk Witt

Text: Hanna Kuhlmann (@hannakuhlmann)

Sexismus, Rassismus, Ableismus: Diskriminierungen gehören, in welchem Gewand sie auch daherkommen mögen, zum alltäglichen (Er-)Leben. Was ihnen gemein ist: Die Angst vor dem Fremden. Angst? Ist es das richtige Wort, um zu beschreiben, wie es sich anfühlt für eine Begegnung keinen ‚Ablageort‘ zu finden? Der Mensch liebt Schubladen, Normen und Kategorien. Diese vermeintliche Weltordnung, die in Wahrheit durch nichts, als den toten Winkel unserer eigenen subjektbezogenen Wahrnehmung zu bestätigen versucht wird, muss aufrechterhalten werden. Haltlosigkeit und Ohnmacht würden den Menschen andernfalls umtreiben. Soweit das Menschenbild, welches die Jugendtheaterwerkstatt Spandau mit ihrer interaktiven Live-Performance zeichnet. Aber sie ergründen diese Ambivalenz genauer: Der Mensch ist sowohl von seiner Kategorienbildung abhängig, als auch in der Lage seine eigenen Denkmuster zu hinterfragen. Die jungen Schauspieler:innen klagen den Menschen entschlossen an: Es gibt Vorurteile, die stimmen und die, die nicht stimmen. Da bleibt nur die Frage, warum wir nicht die anderen Menschen ansprechen?

Dieser Punkt wird besonders deutlich, als die Zuschauer:innen in ihrem digitalen Theatersessel nach ihrer Meinung gefragt werden. Es tauchen drei unterschiedliche Akteur:innen auf, deren Gesichter auf der Bühne auf kleinen Sockeln projiziert zu sehen sind. Das Publikum darf abstimmen: „Welche Person ist heterosexuell?“. Mal liegt die breite Masse daneben, mal entsprechen die Vorurteile der Realität. Begleitet wird dieses virtuelle Quiz von der charmant-sarkastischen Frage des Moderators: „Und warum haben Sie sich für diese Person entschieden?“. Stille. Die Jtw Spandau hält den Zuschauenden sanft, aber bestimmt den Spiegel vor. „Erzähl mir dein dreckigstes Vorurteil“ könnte der Subtext dieser 90-minütigen Performance lauten. Die Interaktion mit dem Publikum veranschaulicht, dass jede*r dem Automatismus der Schubladen gleichermaßen ausgeliefert ist und dass der einzige Weg aus dem dunklen Tunnel schwarz-weißer Stereotypenbildung über die Selbstreflexion führt. Diese selbstreflexiven Gedanken werden unaufhörlich durch die Fragen des Moderators provoziert, ohne dabei dem Publikum böse Intentionen zu unterstellen. Stattdessen schafft es das Jtw Spandau eine offene Interaktionsatmosphäre herzustellen. Über Gedankenexperimente, die einem schon im digitalen Einlassbereich begegnen, wird schnell klar: Hier soll grenzziehenden Mechanismen auf den Grund gegangen, aber nicht brutal angeklagt werden. Wir sollen lernen dürfen und aufdecken, nicht Angst haben. Fragen gegen die Angst. Das zeigt sich auch in den immer wieder eingespielten Videos der so genannten Expert:innen, die über den Zuschauer:innen- oder den Andorra-Effekt aufklären. Denn Expert:innenwissen beruhigt den Menschen gemeinhin ja am meisten – das wissen wir ja. Zwischen YouTuber:innen, einer Märchenstunde und den Publikumsbefragungen begleitet das chorische Atmen der acht Jugendlichen den Schock über die gesellschaftlichen Missstände. Die zum Teil losen Zusammenhänge der unterschiedlichen Szenen lassen den Zuschauenden ratlos zurück: Warum dieser Hass, diese Ausgrenzung? Die Jtw Spandau holt keine Rezeptlösungen oder gar den moralischen Zeigefinger hervor: Jede*r muss sich selbst befragen „Was kann ich tun?“.

Die Inszenierung von Regisseurin Olivia Beck und Medienkünstler Patryk Witt lässt bewusst das Publikum, die Menschen, die Gesellschaft spüren: Es gibt keine einfache Antwort. Kein Regal, aus dem ich die grüne Packung gegen Rassismus und die dunkelblaue gegen Sexismus rausholen kann. In jeder Kategorie steckt auch eine Mehrdeutigkeit, eine Uneindeutigkeit, eine Ambivalenz: „Sei keine Pussy!“, so lässt der Moderator den Leitsatz verlauten, der als Leuchtschrift über dem altbekannten Club der Männlichkeit prangt und fügt hinzu: „Sexismus betrifft Männer und Frauen“.

Während die Zuschauenden vor und nach der Veranstaltung im digitalen Spielort des Jtw Spandau, dem jtw-PLAY, die Soundkulisse eines realen Theaters erleben, zur Bar gehen und die projektbezogene Ausstellung begutachten können, reißt die Performance DAS MENSCHENB1LD zugleich aus dieser gemütlichen Atmosphäre. Wir erleben für einen Bruchteil die Charaktere und lernen einen kleinen Teil ihrer Selbst kennen bis sie wieder von der digitalen Spielfläche verschwinden. Bei jeder aufgelösten Quizfrage bleibt das Bedürfnis mehr erfahren zu wollen: Wie lebt der Informatikstudent, die heterosexuelle Frau oder der geflüchtete Jugendliche? Was interessiert ihn*sie? Was lieben sie? Man möchte tiefer gehen, die Menschen kennenlernen – doch dieser Schritt bleibt aus. Die Jtw Spandau erschafft eine Neugierde: Die Neugierde die Menschen, die uns umgeben, kennenlernen zu wollen. Die Schubladen zu öffnen – und vielleicht mal einen Moment länger darin zu kramen.


Die jugendtheaterwerkstatt spandau ist ein Ort für die Produktion und Präsentation von Kunst, Theater und Musik für junge Menschen in Berlin.
Mehr über das junge Ensemble erfährst du unter:

DAS MENSCHENBILD – (jtw-spandau.de)

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