Du bist was du trägst? – „Das kleine Pony“ und das Stigma

Beitragsbild: Alessandro de Matteis (Installation: Lisa Reutelsterz)
Text: Marius Panitz (marius.panitz@theaterwg.de)

Damals, als ich mit sechs Jahren eingeschult wurde, da musste ich – wie jede:r Grundschüler:in auch – eine tiefgreifende Entscheidung fällen: Welches Muster soll dein Tornister haben? Die gängigen Modelle kamen zumeist von der Firma Scout, waren kastenförmig, hatten an den Seiten zwei kleine und an der Front eine große Aufnähtasche mit Reißverschluss, darüber zwei Klipper mit Reflektoren und bildeten somit gleich, vermutlich sehr unfreiwillig, eine gruselig dreinblickende, das Maul weit aufreißende Fratze. Allein das war für mich bereits ein Ausschlusskriterium. Auch das Stoffmuster beeindruckte nicht: Nahezu drei Viertel der Ranzen der Schulkinder war, ganz klar getrennt, ausgestattet mit einem blauen Stoff mit Rennautos (für die Jungs!) und einem grünen Stoff mit Pferden (für die Mädchen!). Da mein Drang zum Individualismus bereits mit sechs Jahren sehr ausgereift war, entschied ich mich – als alter Fan des Disney-Zeichentrick-Films 101 Dalmatiner – für ein Modell mit Hunden und schwarz-weißen Dalmatiner-Tupfen. Wenn ich doch damals gewusst hätte, wohin das führt…

Eine ähnliche Entscheidung muss auch Luis getroffen haben, der zehnjährige Sohn der beiden Protagonisten des Theaterstücks Das kleine Pony des spanischen Dramatikers Paco Bezerra, denn er wählte einen lilafarbenen Rucksack mit Comic-Einhorn und auch diese Entscheidung sollte ihre Konsequenzen nach sich ziehen, denn Einhörner oder die Farbe Pink sind nichts für Jungen, so zumindest die einhellige Meinung von Luis‘ Mitschüler:innen, Lehrer:innen, dem Schulleiter sowie gar seiner eigenen Mutter. Und so entwickelt sich in der Regie von Nikos Konstantakis ein Kammerspiel in mehreren Sequenzen, in dem die beiden Elternteile in diskursiver Form das Problem zu lösen versuchen.

Foto: Alessandro de Matteis (Installation: Lisa Reutelsterz)

Wir blicken auf eine Bühne, die bis auf einen Stuhl und einen Sitzhocker leer ist. Im Hintergrund sehen wir eine weiße Leinwand, auf die drei Porträts projiziert sind, in der Mitte das große Bild eines Kindes, links und rechts flankiert von kleineren Porträts der Eltern, es suggeriert Familie, in welcher das Kind im Zentrum steht. Im Laufe der sich entfaltenden Dramaturgie des Stückes, entwickeln sich auch die Porträts weiter. In durch Musik und Videoinstallation begleiteten Szenenwechseln machen auch die drei Porträts eine Entwicklung durch, die der Eltern werden schwarz, das des Kindes entwickelt sich zu einer dämonischen Fratze mit einem Horn auf der Stirn.

Schauspielerisch präsentieren uns Leo Kamphausen und Ines Langel ein breites Portfolio an Dynamiken. Ruhige und liebevolle Zweisamkeit der Eltern zu Beginn des Stückes gibt sich die Klinke in die Hand mit einer sich schleichend entwickelnden Entzweiung der beiden bis hin zum kochenden, lauten Wortgefecht. Die Figurenkonstellation der beiden Eltern ist besonders in ihrer Emotionalität äußerst anspruchsvoll, den beiden Darsteller:innen gelingt es nicht immer, diesen Anspruch zu halten, sich aufbauende Klimaxe werden aus unserer Sicht nicht zu Ende gespielt, hin und wieder wird Potenzial zur Eskalation blockiert, uns fehlte dieser „eine Schritt mehr“. Doch wollen wir darlegen, dass dies mit Blick auf die komplexen Rollen Gezeter auf hohem Niveau und die Wahrnehmung von Emotionalität ohnehin etwas Subjektives ist.

Foto: Alessandro de Matteis (Schauspiel: Leo Kamphausen, Ines Langel)

Ästhetisch äußerst ansprechend wird die Entwicklung der Familie auch durch Videokunst von Lisa Reutelsterz visualisiert. Gerade die wabernden Digitalinstallationen, die viel Raum für Interpretation lassen und gleichzeitig ausreichend viele Andeutungen machen, fügt sich hervorragend in das Gesamtbild des Stückes ein. Man verliert sich fast hypnotisch im Wogen und Dahintreiben, das die schwarzen und weißen Linien auf der Leinwand hervorzaubern. Ein nahezu rauschhafter Zustand, der durch die eindrucksvollen Musikstücke, eine Mischung aus glasklarer Stimme und elektronischen Beats, von Anna Illenberger (KiTZ), die locker in einer Liga mit Florence + the Machine spielen kann, effektiv verstärkt wird.

Durch die Konzeption des Stückes stehen diese multisensorischen Elemente ein wenig in Konkurrenz zum eigentlichen Schauspiel. Die klare Trennung von gespieltem Dialog und Video- und Musikelementen samt fragwürdigen Umbaupausen, in denen ein Stuhl oder ein Hocker nur wenige Meter von einer zur anderen Seite bewegt wird, bricht leider ein wenig das harmonische Gesamtbild der Inszenierung. Dass es auch anders geht zeigt das Gänsehaut-verursachende Ende, in dem alles verschmilzt. Der Vater kommt durch den Zuschauerraum auf, sagt nur ein Wort, den Namen seines Sohnes, verharrt in Dunkelheit, den Rest der Geschichte erzählen Musik und Video ihn eindrucksvoller Weise. Wir denken unweigerlich an Hamlet: The rest is silence. Kloß im Hals garantiert. Von diesen hybriden Momenten hätten wir uns mehr gewünscht.

Foto: Alessandro de Matteis (Musikerin: Anna Illenberger –  KiTZ)

Auch wenn die Rezension es andeutet, wir wollen natürlich nicht verraten, wie die Geschichte ausgeht. Vielmehr wollen wir die Aussage des Stückes vom Mikrokosmos Luis aufbrechen und sie auf unser aller Leben reflektieren. Abstrakt gesprochen spielt Das kleine Pony, wie so viele Diskurse, die unsere Gesellschaft vorantreiben, mit dem Antagonismus zwischen „normal“ und „anders“. Was ist normal? Was ist es nicht? Und wer bestimmt das? Ist Anderssein schlimm? Darf man gesellschaftliche Konventionen aufbrechen, wenn man sich ihnen nicht unterordnen will? Und wie viel Gegenwind muss oder kann man aushalten? Das alles sind große Fragen, die weder das Stück beantworten kann noch ein Rezensent am Sonntagmittag, denn auch Gesellschaftswissenschaftler und Philosophen tun sich da noch schwer.

Hintergründe des Stückes sind zwei wahre Geschichten der beiden Jungen Michael Morones und Grayson Bruce, beide Fans der Comic-Serie My Little Pony und damit Ziel eines extremen Mobbings der Mitschüler:innen, das Michael sogar in den Suizidversuch führt, welchen er mit schweren Hirnschäden überlebt. Grayson Bruce widersetzt sich dem Druck und gründet die Organisation Purple Backpacks und setzt sich hier für Toleranz und Inklusion ein. Morones und Bruce stehen hierbei als kleine Beispiele für das Problem täglich stattfindenden Mobbings und für die Ausgrenzung aufgrund verschiedener Individualitäten und Ansichten. Doch wie kann man dem begegnen?

Klar ist: Anders sein ist gut und wichtig und leider auch noch gefährlich. Die Verantwortung, dass sich etwas ändert, das macht auch Das kleine Pony deutlich, liegt an den Institutionen, die es betrifft. Im konkreten Fall ist das die Schule, die eine klare Trennung von weiblichen und männlichen Charakteristika bevorzugt und keine fluiden Lösungen kennt. Aus den alltäglichen Erfahrungen aus der Schule können wir sagen: Es finden Umbrüche statt. Langsam, aber kontinuierlich entwickeln sich Schulen weiter. Immer häufiger finden Queer-AGs statt, immer mehr Inklusionshelfer:innen begleiten Unterricht und Individualität findet auch Einzug in Lehrpläne. So wird ab dem Abitur 2025 das Thema „Questions of identity and gender: ambitions and obstacles / conformity vs. individualism“ beispielsweise fester Bestandteil des Englischunterrichts in der Oberstufe (übrigens sehr zum Leidwesen aller Shakespeare-Fans, der hierfür aus dem Curriculum fliegt!). Diese Beispiele sind weit weg von einem Paradigmenwechsel im Bereich der Anerkennung menschlicher Individualität und dem Aufbrechen gesellschaftlich verkrusteter Rollenbilder, sie sind allerdings ein Zeichen, dass sich etwas tut. Dass sich noch mehr tun muss, macht das Stück mit seiner (zumindest noch momentan) zeitlosen Thematik deutlich und lässt uns nachdenklich den Saal verlassen…

Wie immer empfehlen wir: Guckt’s euch selbst an und macht euch euer eigenes Bild. „Das kleine Pony“ wird noch bis zum 04. April gespielt und vom 21. bis 24. April wieder aufgenommen. Weitere Infos zum Stück und Tickets gibt’s auf der Website des Theaters.


Dir gefallen die Texte der Theater WG? Dann lass uns doch ein Like bei Facebook oder ein Abo bei Instagram da und stell sicher, dass Du in Zukunft nichts von uns verpasst. Du willst selbst Rezensionen schreiben und auf unserem Blog veröffentlichen? Wir sind stets auf der Suche nach neuen Autor:innen. Zögere also nicht und melde Dich über kontakt@theaterwg.de.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s