Text: Werner Alderath (werner.alderath@theaterwg.de)
Beitragsbild: Krafft Angerer, mit: Susanne Wolf, Katharina Schmalenberg und Yvon Jansen
In Köln wird zurzeit Anton Tschechows „Drei Schwestern“, unter der Regie von Pınar Karabulut, gespielt. Vor Kurzem haben auch wir uns die Inszenierung angesehen und müssen sagen: wow! Doch was uns genau zu diesem „wow!“ bewegt, ob das eher ein „wow wie geil ist das denn?“ oder ein „wow, wie kann man den Stoff nur so verschandeln?“ ist, das werden wir in den nächsten Zeilen offenlegen.
Doch zunächst zum Inhalt: Tschechows „Drei Schwestern“, das am 31. Januar 1901 seine Uraufführung in Moskau feierte, ist ein Drama in vier Akten. Genauer stehen, wie sollte es bei dem Titel anders sein, die drei Schwestern Irina (Katharina Schmalenberg, verzweifelt, voller Sehnsucht und vollkommen authentisch), Olga (Susanne Wolf, direkt, hart und manchmal auch herzlich) und Mascha (Yvon Jansen, überzeugt als zunächst in sich gekehrte und dann aus sich herauskommende Person) im Vordergrund. Dennoch haben die drei noch einen Bruder, namens Andrej (Justus Maier, etwas naiv, später devot, aber zu jeder Zeit packend und überzeugend). Olga, die älteste der Schwestern, arbeitet im Schulwesen und sehnt sich danach, eine ruhige Kugel zu schieben. Mascha, die mittlere Schwester, ist bereits länger verheiratet, anfangs noch von der Liebe beseelt, ist sie schon mit 24 Jahren vollkommen desillusioniert und weiß gar nicht genau, was sie möchte. Irina, die jüngste der drei Schwestern, sehnt sich danach, nach Moskau zurückzukehren. Andrej hingegen möchte an die Uni, er verliebt sich in Natascha (Lola Klamroth, anfangs unscheinbar und später den Zuschauer packend, sodass Bewunderung und Hass zugleich entstehen) und zeugt mit ihr ein Kind. Das Stück beginnt mit Irinas Namenstag, viele Offiziere kommen zum Gratulieren. Offiziere spielen im Stück immer wieder eine Rolle, da der Vater der vier Brigadegeneral vor Ort war, jedoch bereits gestorben ist. Natascha, die anfangs noch eine kleine Rolle spielt, erschleicht sich immer mehr Macht im Haus, Andrej hingegen verspielt das gesamte Vermögen. Es werden viele Beziehungen angefangen, Liebe kommt und geht oder wird nicht mal erwidert. Im Laufe des Dramas werden viele (familiäre) Beziehungen gebrochen: Andrej nimmt, ohne das Wissen seiner Schwestern, eine Hypothek auf das Haus auf, der Konflikt zwischen Natascha und Olga eskaliert und Mascha gesteht ihren Schwestern sich in Werschinin (Peter Knaack, nie überzogen, aber immer präsent und stark im Ausdruck), einen Oberstleutnant, verliebt zu haben, auf den es auch Olga abgesehen hatte. Irina hingegen hat Tusenbach (Nikolaus Benda, überzeugt besonders durch seine Bewegungen im späteren Duell), einen Leutnant, geheiratet. Am Ende zerbrechen alle Konstrukte förmlich: Soljony (Nicola Fritzen, stets präsent, ausdrucksstark gespielt und ebenfalls stark im Duell), der versetzte Leutnant, fordert Tusenbach zu einem Duell auf und tötet ihn, Mascha wird von Werschinin verlassen, da das Militär aus der kleinen Provinz, in der das Stück spielt, abgezogen wird. Maschas Ehemann Kulygin (Yuri Englert, immer authentisch und überzeugend den naiven, an Werten festhaltenden Mann mimend) will anschließend ihre Beziehung fortsetzten, als wäre nie etwas gewesen. Andrej muss seine Träume nach der Universität endgültig begraben und mit Natascha, die das Haus inzwischen ganz beherrscht, unter ihren Fittichen leben. Olga ist Schuldirektorin geworden und Irina entscheidet sich am Ende, einfach fortzugehen und eine Stelle als Lehrerin aufzunehmen.

Kein einfacher Plot, wenn man ehrlich ist. Auch ein bisschen deprimierend, da man der Reihe nach Sehnsüchte und Wünsche in Rauch aufgehen sieht. Gerade der richtige Stoff für Pınar Karabulut, die bekannt dafür ist, sich auch älteren Stücke anzunehmen, sie zu verstehen und für den Zuschauer in ein neues Bild zu rücken (wie schon bei der Inszenierung zu Romeo und Julia gesehen).
Zunächst sehen wir die drei Schwestern, sie sind in Daunenjacken, einer Art Schlafsack und einen sogenannten Fatsuit gekleidet. Als komplettes Gegenteil, fast schon normal und unschuldig in weiß gekleidet, kommt später auch Andrej hinzu. Von Anfang an wird klar: die Kostümwahl ist nicht auf großen Pomp ausgelegt, sondern darauf, die einzelnen Charaktereigenschaften noch weiter hervorzuheben. Mascha, die sich später ihres schlafsackähnlichen Mantels entledigt, trägt darunter schwarze Lackkleidung. Ein Widerspruch, der zeigt wie Mascha tickt: einerseits gefangen in ihrer (unglücklichen) Ehe, andererseits die Sehnsucht nach neuen Abenteuern, die sie später auch mit Werschinin erleben soll. Werschinin, Soljony und Tusenbach, die allesamt dem Militär angehören, tragen blau und haben zusätzlich ein breites Kreuz. Werschinin trägt zusätzlich noch einige Orden an der Brust, um seinen Rang hervorzuheben. Es wird klar: das Militär soll als starker Arm dargestellt werden, der vor Ort präsent ist, jedoch schlägt dies teilweise auch in Machogehabe um, um die Damen zu beeindrucken. Olga, die in ihrem Fatsuit gefangen zu sein scheint, wird so die Trägheit auf den Leib geschneidert. Sie wirkt in Teilen wie eine strenge russische Mamutschka. Insgesamt ist die Kostümwahl, für die Teresa Vergho steht, sehr gelungen und unterstreicht den Charakter der Inszenierung.

Etwas abgedrehter wird es dann bei der Wahl des Bühnenbildes (Bettina Pommer): zunächst sieht der Zuschauer eine leere Bühne und eine schwarze, hängende Wand, die sich später als LED-Wand herausstellt. Allerdings haben wir im Vorfeld schon viele Bilder von einer überdimensionalen Luftmatratze gesehen und uns gefragt, wann diese aufgebaut werden soll. Und statt sie einfach aufbauen zu lassen wird sie als Lieferung zum Namenstag von Irina getarnt, als Peter Knaack als Lieferbote in den Zuschauerraum fragt ob es irgendwo Starkstrom gäbe. Hier trifft die Moderne wieder auf die Textvorlage, was dem Ganzen wieder eine gewisse Lockerheit verleiht. Im Laufe der Inszenierung sollen noch einige dieser Momente folgen, die wieder einmal zeigen, dass Pınar Karabulut es versteht mit (älteren) Textvorlagen umzugehen. Und da kommt sie dann, die Luftmatratze. Eigentlich passiert nichts weiter, als dass diese sich ausbläst, dabei immer bedrohlicher wird. Sie ist so gefaltet, dass sie beim aufblähen in die richtige Richtung umkippt, bis letztendlich die Matratze wie eine riesige Wand umfällt, genau vor die Füße der Darsteller. Im Laufe des Stücks wird auf ihr gesessen, gelegen, gesprungen, gejagt. Es hat etwas kindliches, auch als Zuschauer möchte man sofort zur Bühne laufen und auf dieser riesigen Hüpfburg springen. Die Inszenierung bekommt dadurch eine gewisse Lockerheit, die die Vorlage eigentlich nicht hergibt (auch wenn Tschechow es mal so vorgesehen hatte, doch durch seine dunkle Komik und Melancholie und der Tatsache, dass niemand so richtig seinen Sehnsüchten folgen kann, geht die eigentlich beabsichtige Heiterkeit automatisch verloren). Neben der Luftmatratze folgen noch weitere Elemente mit Übergröße, so fiel ein riesiger silberner Ball von der Decke und knallte auf die Bühne oder ein großer, durchsichtiger Ring, in den man sich legen kann, der aber auch als Gefängnis dient, kommt in der Inszenierung vor. Es sind wenige Elemente, die im Bühnenbild verbaut wurden, doch ihre Größe verleiht dem ganzen den richtigen Rahmen. Eindrucksvoll, anders können wir es nicht beurteilen.
Auch die LED-Wand wird immer wieder genutzt, verschiedene Worte, wie „Love“, „Breathe“, „Live“ werden eingeblendet, aber auch russische Wörter werden gezeigt. Außerdem unterstützt die Wand beispielsweise im Duell mit Lichteffekten das wilde Geschehen und wird so nicht nur für Wörter, sondern auch für die Beleuchtung genutzt, Atmosphäre entsteht. Ein durchaus modernes Element, das es bei der Uraufführung 1901 noch nicht gegeben hat und dennoch wirkt es keinen Moment fehl am Platz.

Zuletzt ist auch die Musikauswahl (Daniel Murena) wieder sehr treffend. Schon bei Romeo und Julia lernten wir, dass Karabulut gerne auf harte Bässe setzt, diese fanden wir auch in dieser Inszenierung wieder. Doch nicht nur Musik aus dem Off wurde eingespielt, auch Lieder wie „Moskau“ von Dschinghis Khan wurde von den Schauspielern angestimmt. Obwohl die Musik auf den ersten Blick störend erscheint und auch nicht sonderlich harmonisch mit einer Inszenierung eines russischen Theatermachers einhergeht, fügt sie sich dennoch ganz wunderbar in das Gesamtbild ein. Die Auswahl rundet das gesamte Konzept dieser Inszenierung ab.
Am Ende wird noch einmal die LED-Wand genutzt, der Zuschauer wird mit den Worten „error 404“ konfrontiert, dann Black. Der Fehler, der den meisten vom PC bekannt sein dürfte, wenn eine Seite nicht gefunden wurde, bzw. ein Server nicht mit einem anderen Server kommunizieren kann, steht abschließend noch einmal für die Sehnsüchte der einzelnen Charaktere. Niemand hat es geschafft seine Ziele richtig zu verfolgen, Moskau bleibt weiterhin nur ein Traum, wiederum andere haben sich ganz aufgegeben. Zwischen den Charakteren und ihren Wünschen konnte keine Verbindung hergestellt werden.

Nachdem die Fehlermeldung auf der LED-Wand erlischt gibt es, zurecht, einen langen Applaus. Dennoch braucht es eine Nacht um das Gesehene zu verdauen. Dem Zuschauer werden viele Eindrücke vermittelt, es gibt aber auch viel Text, dem man nicht immer so einfach folgen kann. Und dennoch ist es am Ende eine Inszenierung, die wir ganz klar empfehlen können. Nachdem Pınar Karabulut auch in der Märzausgabe der „Theater der Zeit“ dargestellt wurde, sind wir uns sicher, dass der jungen Regisseurin eine Menge Türen offenstehen. Wir hoffen, dass eine der Türen auch weiterhin das Schauspiel Köln sein wird, damit es dort zukünftig weitere Inszenierungen von ihr zu sehen gibt.
Wer sich „Drei Schwestern“ noch ansehen möchte, sollte sich sputen, denn die Spielzeit neigt sich langsam dem Ende zu. Alle Termine und Tickets gibt es über die Seite des Schauspiel Köln.
Ein Gedanke zu “An den eigenen Sehnsüchten vorbeispringen – Anton Tscheschows „Drei Schwestern“ am Schauspiel Köln”